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An der elektronischen Hundeleine

('Konkret', Februar 2015)

Kranken- und Lebensversicherungen interessieren sich für die Möglichkeiten elektronischer Überwachung. Der neuste Trend bei der sogenannten Gesundheitsförderung: mit der Selbstvermessung Prämien sammeln. Ist das noch "Selbstoptimierung" oder bereits "Gesundheitsdiktatur"?


Der Versicherungskonzern Generali will seinen Kunden günstigere Krankenversicherungen verkaufen, wenn diese im Gegenzug regelmäßig Sport treiben und dies über ein kleines Smartphone-Programm auch nachweisen. Die Versicherten installieren ein Computerprogramm auf ihrem internetfähigen Mobiltelefon und dokumentieren damit, dass sie an bestimmten medizinischen Untersuchungen teilnehmen und dass sie, wie der eingebaute Beschleunigungssensor des Telefons beweisen soll, Sport treiben. Diese Nachricht sorgte Ende des vergangenen Jahres für viel Blätterrascheln. „Generali erfindet den elektronischen Patienten“ („Süddeutsche“), „Versicherer macht auf Big Brother“ („Welt“), „ein Kulturbruch“ („FAZ“). „Was gesund ist und wie wir leben sollen, definieren zur Zeit vor allem private Konzerne wie Generali, Allianz oder Axa und deren Algorithmen“, schrieb Niklas Maak in der „FAZ“, mit dem Telemonitoring falle „die Grenze, die den Körper als einen Raum des Privaten, Intimen und unbedingt Geschützten definiert“.
Kein Kommentator vergaß zu erwähnen, dass es sich bei der geplanten „Veröffentlichung unserer Körper“ um den ersten Versuch dieser Art in Europa handle, um einen „Tabubruch“ eben. Tatsächlich setzen deutsche gesetzliche Krankenkassen diese Form der Gesundheitsförderung schon länger ein. Im Rahmen ihrer Bonusprogramme überwachen und belohnen DAK, AOK oder die Daimler Betriebskrankenkasse bereits jetzt Sport, Diät und sonstigen Gesundheitsaktivismus, übrigens auch mit elektronischen Mitteln wie Smartphone-Apps. Die DAK beispielsweise zahlt bis zu 150 Euro im Jahr für Vorbeugungsmaßnahmen, wozu auch der Gebrauch der seit 2013 angebotenen „Fitcheck-App“ gehört.Das ist nicht deshalb bemerkenswert, weil das deutsche Feuilleton pfuscht, sondern weil die liberale Kritik an der Gesundheitsüberwachung erschreckend orientierungs- und hilflos wirkt. Private Unternehmen dürften nicht die Normen gesunden Verhaltens festlegen, heißt es da, und schon gar nicht dieses Verhalten übers Internet kontrollieren. Die „Süddeutsche“ interviewte die Schriftstellerin Juli Zeh (Corpus Delicti), die seit langem vor einer angeblich drohenden „Gesundheitsdiktatur“ warnt. Durch die jüngste Entwicklung sieht die Autorin sich bestätigt: „Das Streben nach Sicherheit, Gesundheit, Schmerz- und Risikofreiheit führt letztlich zu einem totalitären Gesellschaftsmodell.“ Andere machen die Körperbewussten verantwortlich: „Selbstoptimierer lassen sich sogar freiwillig kontrollieren“, schreibt Ann-Christin Gröger in der „SZ“.
Wollen wir einfach zu viel auf einmal - zu viel Sicherheit, Gesundheit und Wohlstand? Müssen wir uns vom Perfektionismus lösen? Seit etwa zwei Jahren finden die spielerische „Selbstvermessung“ und die kommerzielle Praxis von Krankenversicherungen zueinander: Die einen dokumentieren ihren körperlichen Zustand möglichst lückenlos, den anderen eröffnen diese Daten neue strategische Möglichkeiten. Weder das Schlagwort Gesundheitsdiktatur noch Selbstoptimierung erklären dieses Phänomen. Beziehungsweise beide Begriffe werden erst in einem anderen Zusammenhang aussagekräftig - dem der Bevölkerungspolitik.

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Zunächst muss ein Missverständnis ausgeräumt werden: Die Krankenversicherungen wollen mit der präventiven Gesundheitsförderung gar nicht ihre Kunden gesund machen, jedenfalls nicht in erster Linie. Vielmehr versuchen sie, mit ihren Bonusprogrammen neue attraktive Beitragszahler anzulocken, im Jargon der Versicherungswirtschaft „gute Risiken“ genannt. Gute Risiken sind jung, kerngesund und wohlhabend. Solche Kunden treiben überdurchschnittlich häufig Sport, aber sie sind nicht deshalb gesund.
Für die Kassen haben diese Kunden den Vorteil, dass sie länger und höhere Beiträge zahlen, weil sie länger leben und mehr verdienen, aber nicht (wesentlich) mehr Behandlungskosten verursachen als die ärmeren und daher kränkeren Versicherten. Bonusprogramme spielen in Deutschland eine noch kleine, aber wachsende Rolle; durch ein neues Präventionsgesetz werden sie gerade abermals gestärkt. Für die Krankenkassen werden Verhaltensprämien zu einem wichtigen Geschäftsfeld. Kein Wunder, mit jeder neuen Umstrukturierung seit 1997 setzt die Bundesregierung sie stärker untereinander in Konkurrenz.
Die Regierung fördert präventive Maßnahmen aus ideologischen und wirtschaftlichen Gründen. Die ideologische Denke brachte 2013 Daniel Bahr, der Gesundheitsminister der damals noch existierenden FDP, auf den Punkt: „Eine Solidargemeinschaft funktioniert nur dann, wenn jeder einzelne tut, was er kann, um gesund zu bleiben.“ Ungesundes Verhalten, was immer das sein mag, gilt als unanständig. Die Kernaufgabe dieser Art Gesundheitspolitik ist es, Moral und Kalkül, Ethik und Nutzen zur Übereinstimmung zu bringen: (Körperliche) Leistung muss sich wieder lohnen!
Die „präventive Wende der Gesundheitssysteme“ erklärt sich außerdem aus konkreten Problemen des Sozialstaats. Gesundheitspolitik zielt (wie Familien-, Bildungs- und Sozialpolitik) darauf, die wirtschaftliche Produktivität zu erhöhen oder die staatlichen Transferzahlungen für Arbeitslosigkeit, Invalidität, Krankenbehandlung und Versorgung der Alten zu senken. Ganz offiziell begründen Gesundheitspolitiker ihre präventiven Bemühungen daher mit ökonomischen Notwendigkeiten. Die Konvention erfordert zwar, als erstes Ziel das Wohlergehen der Menschen herauszustreichen, die alle angeblich selbst am besten wissen, was gesund für sie ist. Unvermeidlich folgen dann die schlimmen Worte: Fehltage, Frühverrentung, Behandlungskosten. Gesundheitliche Prävention verspricht wirksame Bevölkerungspolitik (beinahe) zum Nulltarif.

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All das erklärt nicht, warum heutzutage gesunde Menschen beispielsweise mehrmals am Tag ihren Blutdruck messen und bereit sein werden, solche Daten für eine Handvoll Euro ihren Versicherungen mitzuteilen. Wenn „Gesundheitsdiktatur“ die Perspektive von oben beschreibt - kommt die „Selbstoptimierung“ von unten? Ist sie unabhängig vom Sozialstaat?
In den Smartphone-Apps von Generali und anderen verbinden sich „Selbstführung“ und „Herrschaft“, Freiwilligkeit und staatliche Steuerung in einer neuen Form. Die bevölkerungspolitische Problematik ist dagegen alt. Wir befinden uns an einem Punkt, an dem „die Herrschaftstechniken über Individuen sich der Prozesse bedienen, mit denen das Individuum auf sich selbst einwirkt“, wie Michel Foucault einmal formulierte.
Foucault muss hier erwähnt werden, weil er das zeitgenössische Denken über den Zusammenhang von Macht, Körper und Individuen geprägt hat. Besonders einflussreich wurde seine Modernisierungstheorie zu der Frage, wie sich das Regieren historisch verändert. Einst, erklärt der Sozialphilosoph, waren die Untertanen nur deshalb lebendig, weil und solange der souveräne Herrscher dies wünschte. Das traditionelle Tötungsrecht sei dann im 18. und 19. Jahrhundert durch etwas Neues ergänzt worden: durch Regulation und Kontrolle.
Die neuen Machttechniken zielen auf die Vermehrung und Verbesserung des Lebens (weshalb Foucault sie Biopolitik taufte). Nun kommt die Bevölkerung als solche in den Blick und wird zu einer staatlichen Angelegenheit. Sie wird statistisch erfasst und erhält „eine Geburtenrate, eine Alterskurve, eine Alterspyramide, eine Sterblichkeitsrate und einen Gesundheitszustand“. So beginnt eine epidemiologische Dynamik, die dem Staat immer umfassender und detaillierter zeigt, was im „Volkskörper“ vor sich geht, und die ihm heute im Prinzip individuelle Pulsmessungen oder Blutwerte zugänglich macht. Worauf beruht nun eigentlich die Macht der Biomacht? Sie kann, argumentiert Foucault, Menschen in ihrer Reichweite sterben lassen. Dass sie dazu überhaupt befähigt wurde, lag allerdings daran, dass die Regierungen ab dem 17. Jahrhundert alle Möglichkeiten versperrten, einen Lebensunterhalt zu finden, sofern diese nicht auf Lohnarbeit beruhten. Aber „der Eigentumslose ist mehr geneigt, Vagabund und Räuber und Bettler als Arbeiter zu werden“, heißt es bei Marx - eine ehemalige Bäuerin ist noch lange keine Fabrikarbeiterin. Eine lediglich „passive Proletarisierung“ (Claus Offe) - die Zerstörung von alternativen Einkommens- und Lebensmöglichkeiten - genügt mittelfristig nicht, um eine kapitalistische Gesellschaft zu erhalten. Man muss Arbeiterinnen dazu bringen, neue Arbeiter zu gebären. Man muss Eltern dazu bringen, ihren Kindern ein Minimum an Pflege und Zuneigung zukommen zu lassen. Man muss sie dazu bringen, häufig stumpfsinnige, auch fragwürdige Tätigkeiten für ein wenig Schmerzensgeld auszuführen. Und einiges mehr, nur um schließlich eine „physisch und qualifikatorisch intakte Arbeitskraft“ (Offe) zur Verfügung zu haben.
So lautet die Aufgabenstellung jeder bisherigen Bevölkerungspolitik. Mit ihren Transferzahlungen und Infrastrukturen muss sie, kurz gesagt, dafür sorgen, dass Arbeitskräfte sich reproduzieren können - vulgo arbeiten, überleben und Kinder machen -, aber gleichzeitig das Proletariat als Proletariat erhalten, das heißt: Sowohl den Zwang (Eigentumslosigkeit) als auch die Befähigung und den Willen zur Lohnarbeit reproduzieren.

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Der Bevölkerungspolitik stehen zu diesem Zweck eigentlich nur zwei unterschiedliche Organisationsformen zur Verfügung: die Versicherung und die Fürsorge. Während erstere aus Beiträgen finanziert wird, bezahlt der Staat Fürsorgeleistungen aus Steuergeldern. Mischformen haben sich historisch herausgebildet und unterscheiden sich von Nation zu Nation. So ist der deutsche Sozialstaat stärker von einer öffentlich-rechtlichen Selbstverwaltung geprägt als beispielsweise der britische oder der spanische. Wie immer er aber ausgestaltet ist, die perfekte Mischung und endgültige Lösung der sozialstaatlichen Problematik gibt es nirgendwo.
Warum? Sozialversicherungen scheinen auf den ersten Blick ideal. Beitragszahler treten einen gewissen Teil ihres Lohnes ab. Im Gegenzug zahlt die Versicherung später bei Erwerbslosigkeit und für Krankenbehandlung oder Pflege. Dadurch ist Lohnarbeit als die regelhafte Lebensform gesetzt; nur durch sie (bzw. durch Ehe oder Verwandtschaft mit einem Lohnarbeiter) sind die Versicherten geschützt. Die Versorgung erfolgt tauschförmig: Die Beitragszahler erhalten keine Almosen, sondern nehmen lediglich vertragsgemäß in Anspruch, wofür sie bezahlt haben. Dies hat ideologische Folgen. Zum „Versicherungsfetisch“ (Christian Frings) gehört, dass es sich um ein Geschäft auf Gegenseitigkeit handelt. So ist die Spaltung zwischen anständigen Versicherten und unanständigen Fürsorgeempfängern, zwischen vermeintlich nützlichen und vermeintlich unnützen Proletariern in der Struktur der Sozialversicherung angelegt.
Trotz diesen unleugbaren bevölkerungspolitischen Vorteilen kann Versicherung allein nicht die Lösung sein. Alle Menschen zusammen, samt Kinder, Alten und anderen Nichtarbeitern, bilden zwar in gewisser Weise eine produktive Einheit, aber ihre Versorgung kann nicht insgesamt versicherungsförmig organisiert werden. Sie bekommen stattdessen Fürsorgeleistungen, die in der Regel deutlich weniger attraktiv sind. Auch diese organisiert der Sozialstaat nach Möglichkeit tauschförmig: Statt einfach den Zugang zu ermöglichen, werden Leistungen an bestimmte Verhaltensweisen und Eigenschaften geknüpft, um einen unkontrollierten Wechsel von einem Status (Student, Rentner, Selbständiger ...) zu einem anderen zu verhindern. Fürsorge darf keinen Ausweg aus der Lohnarbeit eröffnen.
Auch Fürsorgesysteme haben bevölkerungspolitische Vorteile. Die Regierung steuert sie unmittelbar und bindet die Leistungsempfänger an sich. So kann sie beispielsweise pünktlich zum Wahltermin die Renten erhöhen. Vor allem aber kann sie den Leistungsempfängern unverblümt und detailliert vorschreiben, was sie tun und lassen sollen. Damit ist allerdings nicht entschieden, ob die Leistungsempfänger es wirklich tun und lassen. Die Einhaltung der staatlichen Vorschriften muss kontrolliert werden - und das kostet. Kontrollkosten sind ein praktisches Problem, aber möglicherweise kein unlösbares. Schwerer wiegt der Nachteil, dass jedes umfassende Fürsorgesystem einer bürgerlichen Gesellschaft eigentlich prinzipiell widerspricht. Pflichten begründen Rechte: Wenn der Staat bestimmte, genau umrissene Verhaltensweisen vorschreibt, muss er in Gegenleistung treten. Statt freie Bürger stehen ihm Klienten gegenüber. Daher bleibt Fürsorge normalerweise auf „Ausnahmen“ und Ergänzungen beschränkt.
Um die Problematik noch einmal kurz und bündig zusammenzufassen: Ein Sozialstaat, der Menschen nicht als Kunden, sondern als Bedürftige behandelt, hat sie zwar im Griff, aber er hat sie auch am Hals. Von unten sieht diese Polarität folgendermaßen aus: Als Bedürftiger dazustehen ist oft entwürdigend; ein Kunde darf immerhin den Laden verlassen, wenn es ihm zu bunt wird. Kann man sich allerdings Lebensnotwendiges nicht leisten, ist Kunde sein deutlich schlechter.

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Was bedeutet das alles nun für die Smartphone-App zur Gesundheitsüberwachung? Welche Bedürfnisse bedient sie, für welche sozialpolitischen Entwicklungen steht sie? In den Kommentaren war viel die Rede vom Solidarprinzip der Krankenkassen, das nun durch die individualisierte Überwachung unter Druck gerate. Dieses Prinzip besagt, dass zwar die individuellen Beiträge abhängig vom Einkommen sind, aber nicht die Leistungen von der Beitragshöhe. „Individualisierte Tarife bergen eine große Gefahr“, hieß es beispielsweise in der „Süddeutschen“. „Versicherer gleichen eigentlich verschiedene Risiken aus, zwischen vielen Kunden und auch über die Zeit.“ Umverteilt wird allerdings lediglich innerhalb einer Versicherung. Daher ist es für die gesetzlichen Krankenkassen (trotz gewissen Ausgleichsmechanismen) schon lange attraktiv, „gute Risiken“ anzuziehen und „schlechte Risiken“ loszuwerden - abgesehen davon, dass sich in Deutschland bekanntlich jeder privat versichern und der „Solidargemeinschaft“ aus der Ferne zuschauen darf.
Richtig ist allerdings, dass Bonusprogramme für „gesundes Verhalten“ in gewisser Weise eine neue Qualität darstellen. Bisher individualisierte das System nur anhand der Einkommenshöhe (und dadurch anhand des Geschlechts). Nun sollen die Kosten von bestimmten Handlungen abhängen. Ob sich das massenhaft durchsetzen wird, ist nicht klar. Ein Grund ist das oben erwähnte Problem der Kontrollkosten, denn natürlich müssen die Krankenkassen sicherstellen, dass die Versicherten wirklich die Finger von den Zigaretten lassen und im Fitnessstudio auf dem Laufrad strampeln. Je höher aber der finanzielle Ertrag, desto erfindungsreicher werden diese sein. Die Vorstellung, elektronisch-digitale Überwachung sei ganz besonders wirksam, wird sich spätestens auflösen, wenn junge Leute demnächst mit einem Rucksack voller Smartphones von Sportmuffeln durch die Gegend joggen.
In Österreich setzt die Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft, eine Krankenkasse für Selbständige, auf harte biomedizinische Fakten und die Mitarbeit von Ärzten. Versicherte vereinbaren bestimmte Zielwerte - beispielsweise Gewichtsverlust um soundsoviel Kilo - und werden beim Arzt gewogen. Erreichen sie innerhalb eines halben Jahres die vereinbarten Werte, sinken ihre Zuzahlungen. Könnte ein solches System politisch durchgesetzt werden?

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Die präventive Gesundheitspolitik nimmt das Individuum in Dienst, ihr Endziel ist die „Eigenverantwortung“. Den eigenen Körper pflegt das Individuum verantwortungsbewusst und mit wachsendem Aufwand - in der Regel hat es ja ohnehin nichts anderes als seine geistige und körperliche Gesundheit. Es ist vollständig proletarisiert, aber soll seinen Körper bürgerlich als individuellen Besitz betrachten. Gleichzeitig, und das ist entscheidend, verwandelt der Staat die Gefahr, krank zu werden, in ein individuelles Risiko mit drastischen Folgen. Es geht um eine existentielle Frage: (Wie) Werde ich behandelt werden, wenn ich krank werde?
Prämien normieren, ohne zu zwingen. Gerade deshalb sind sie der Königsweg der gegenwärtigen Gesundheitspolitik im speziellen und der Bevölkerungspolitik im allgemeinen. Ihr Ideal ist der stumme Zwang. Sie scheut das Verbot und liebt den Anreiz. Einen Anreiz zu setzen bedeutet, ein vorhandenes Bedürfnis aufzugreifen, dann eine bestimmte Möglichkeit zu seiner Befriedigung zu bieten (und andere Möglichkeiten zu verhindern) und Verhalten so in eine gewünschte Richtung zu lenken. Angeblich zwingen Anreize nicht - sie empfehlen bloß. In Wirklichkeit verläuft zwischen Anreiz und Zwang keine klare Grenze.
Anreize sind ein gangbarer Weg, um sich Kontrollkosten vom Leib zu halten, und mit einem liberalen Selbstanspruch besser vereinbar. Theoretisch ist der liberale Staat nämlich der Wertneutralität verpflichtet. Ob seine Bürger Kinder machen oder es lassen, rauchen wie die Schlote, saufen wie die Löcher oder auch ob sie sich die Beine abhacken, all das geht ihn eigentlich nicht das geringste an. Praktisch hat er immer Erwünschtes normiert und Unerwünschtes stigmatisiert – eben Bevölkerungspolitik betrieben.
Ist das wirklich eine „Gesundheitsdiktatur“? Die aktuelle Gesundheitsförderung sagt ja gerade nicht: „Du darfst nicht rauchen, sonst wirst du bestraft!“ Sie sagt: „Wenn du unbedingt rauchen willst, dann musst du auch die Konsequenzen tragen.“ Welche Konsequenzen werden das sein? Höhere Beiträge bezahlen? Länger auf eine Lungenoperation warten? Erst vor diesem Hintergrund ergeben Debatten über die Gefahren von „Selbstoptimierung“ Sinn.