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What Done It
Mit The Wire hat David Simon Fernsehgeschichte geschrieben. Nun feiern ihn die Feuilletons – zurecht, aber aus den falschen Gründen. Simons Frühwerk „Homicide“, eine Sozialreportage über eine Mordkommission in Baltimore in den USA, zeigt bedrückend realistisch, wie das Verbrechen nicht bekämpft, sondern verwaltet wird.

(KONKRET, Oktober 2011)

Die Polizisten stehen frierend um die Leiche auf der Straße herum. Es ist mitten in der Nacht, sie versuchen, witzig zu sein. „Kennt ihn jemand“ fragt einer von der Mordkommission. „Nein, der war schon zehn-sieben, als wir angekommen sind“, antwortet einer der Streifenpolizisten. „Zehn-sieben. Der Funkcode für >außer Betrieb<, umstandslos übertragen auf ein Menschenleben.“
So beginnt das Buch und so geht es weiter. David Simons „Homicide – Ein Jahr auf mörderischen Straßen“ zeigt den Arbeitsalltag einer Mordkommission detailliert, realistisch und in aller Drastik. Ein ganzes Jahr lang begleitete Simon, damals noch Polizeireporter bei einer Lokalzeitung in Baltimore, die Ermittler. Er fuhr mit zum Tatort, ging nach Feierabend mit in die Kneipe und zur Autopsie, er wartete mit ihnen im Hauptquartier auf den nächsten Einsatz. Das war 1988. Drei Jahre später kam Simons Reportage Homicide auf den amerikanischen Markt. Noch einmal zwanzig Jahre später ist das Buch nun auf deutsch erschienen. Wäre Simon nicht durch eine Verkettung von äußerst unwahrscheinlichen Zufällen berühmt geworden, wäre es bestimmt nicht zu einer Übersetzung gekommen. Weil er später mit The Wire „die beste Fernsehserie aller Zeiten“ geschrieben haben soll, wie jetzt überall zu lesen ist. Stimmt ja auch.
The Wire wurde von einem amerikanischen Bezahlsender zwischen 2002 und 2008 ausgestrahlt. Die Fernsehserie entfaltet in 60 Episoden ein vielschichtiges Gesellschaftspanorama der zeitgenössischen Stadt Baltimore. Mit jeder neuen Folge wird Simons Personage aus Drogenhändlern, Polizisten, Straßenjunkies, Politikern, Immobilienmaklern, Hafenarbeitern und Journalisten größer und faszinierender. Dabei sind alle Figuren glaubwürdig und komplex, niemals bloße Verkörperungen ihrer sozialen Rollen und dennoch in diesen Rollen gefangen. Martin Kluger hat Simons Arbeitsweise vor zwei Jahren mit dem Sozialrealismus Balzacs verglichen, und da ist etwas dran. In The Wire gibt es keine guten und schlechten Menschen. Es gibt keine einfachen Antworten. Simon, ein routinierter Journalist, sagte kürzlich in einem Interview, er habe die Serie als eine Art Leitartikel begriffen. The Wire spannend, Gesellschaftsanalyse und Gesellschaftskritik.
Wie üblich erkannte das Publikum Qualität als erste, die Kritiker folgten zögernd nach. Seit zwei, drei Jahren ist es nun Pflicht, David Simon gut zu finden. Die Feuilletons bemühen zum Vergleich unter anderem Dostojewsky, Tolstoi, Charles Dickens, Dos Passos. Demnächst wird jemand Shakespeare vorschlagen. Ein besonders ahnungsloser deutscher Rezensent von Homicide brachte sogar Walter Benjamin ins Spiel.
Mit der Arbeit von David Simon hat all das wenig zu tun. Der ehemalige Polizeireporter einer provinziellen Tageszeitung hat mit kein Werk der Weltliteratur vorgelegt, sondern eine lesenswerte Sozialreportage über ein Milieu, in das man ansonsten keinen Einblick bekommt. Das Buch ist gut geschrieben und clever strukturiert, aber es sind journalistische, keine literarischen Fähigkeiten, die seine große Klasse ausmachen. Simon hat sich bei seiner ausgedehnten Recherche lediglich an die goldenen Regeln der Sozialreportage gehalten. Sie lauten, kurz gefasst: Sei neugierig! Gib dich nicht mit dem Augenschein zufrieden; glaub nichts von dem, was dir erzählt wird. Und das wichtigste: Sei offen für die Menschen, die du trifft; aber wenn du angefangen hast, sie zu mögen – denn das passiert nach einer Weile immer! – beschreibe sie kritisch, aber fair. Im Vorwort schreibt Richard Price, ein späterer Mitarbeiter von Simon : „Er tat, was alle gute Journalisten machen: Er hing herum.“ Simons Recherche in der Mordkommission von Baltimore war, was man soziologisch eine teilnehmende Beobachtung nennt. Zu Beginn beäugten ihn die Polizisten misstrauisch, aber Simon schafft es, ihr Vertrauen zu gewinnen. Seine Anpassung an die ganz besonderen Umgangsformen im Morddezernat („seit Menschengedenken das natürliche Habitat einer ganz seltenen Spezies: das des denkenden Cop“) geht so weit, dass er irgendwann von den Polizisten als Kollege behandelt wird. Zum Schluss, als die anderen gerade beschäftigt sind, nimmt er sogar eigenhändig eine ziemlich unprofessionelle Verhaftung vor. Simons größte Leistung besteht darin, dass er – ein Ohrring tragender linksalternativer Intellektueller – es tatsächlich schafft, in die cop culture , ohne seine kritische Distanz zu verlieren. Die entstehenden Freundschaften und Solidaritäten hindern ihn nicht daran, die Polizisten als mehr oder weniger zynisch und mehr oder weniger rassistisch zu beschreiben.
In der populären Kultur gibt es das Bedürfnis nach der Dokumentation des Alltäglichen und Authentischen. (Eben dieses Bedürfnis betrügen die deutschen Privatsender mit scripted reality.) Auch Homicide ört, als Real Crime – öker zu diesem Genre. Siehe da, das Verbrechen sieht ganz anders aus, als es uns Agatha Christie und Georges Simenon erzählt haben! An einer bezeichnenden Stelle spielen zwei Ermittler, als sie an einem nebligen Morgen durch ein Elendsviertel der Stadt stolpern, Sherlock Holmes.
Warum das lächerlich ist, versteht sich von selbst. Mit „Mord als schöner Kunst betrachtet“ haben die wirkliche Verbrechen nichts zu tun. Die Morde entstehen nicht aus übergroßen Leidenschaften, sondern in aller Regel aus Dummheit und Gier. Sie sind nicht tragisch, sondern banal. Die Persönlichkeiten von Opfern und Tätern unterscheiden sich kaum. Möglicherweise haben sie eine Geschichte, aber sicher kein Schicksal.
Zur Zeit von Simons Recherche wurden in Baltimore bezogen auf die Einwohnerzahl die meisten Menschen umgebracht. Durchschnittlich kommt es einmal täglich zu einem Einsatz, an manchen Nächten zu dreien. Entsprechend routiniert gehen die Beamten vor, und natürlich setzen sie ihre Ressourcen für die Aufklärung aussichtsreicher Fälle ein. Die Ermittler sind routiniert, aber professionell. Sie überführen Verbrecher, indem sie Indizien finden und und Geständnisse erzwingen. Motiv und Psyche von Täter oder Opfer sind ihnen herzlich egal, solange diese nichts zur Aufklärung beitragen. Ob allerdings derjenige, der schließlich von der Staatsanwaltschaft angeklagt wird, genau dieses Verbrechen genau auf diese Weise begangen hat, ist für sie zweitrangig.
Die Angestellten der Mordkommission bearbeiten das Verbrechen wie die Angestellten eines Krankenhauses Krankheit und Verletzung. Zu diesem Habitus gehört ihr unaufhörliches Kalauern. Ständig reißen sie Witze über Verwundung und Tod, das Bestialische. Sie unterscheiden sich darin nicht von auch Rettungssanitätern oder Gerichtsmediziner überall in der Welt. Am Anfang versuchen sie, mit Witzen ihr Entsetzen in Schach zu halten. Irgendwann haben sie vergessen, warum sie es eigentlich tun.
Ganz wie bei The Wire interessiert sich Simon in Homicide nicht für Persönlichkeiten oder „Schicksale“, sondern für die Funktionsweise von Apparaten, für soziale Zusammenhänge. Er ist gesegnet mit der unstillbaren Neugier eines guten Journalisten, der wirklich verstehen will, „wie das eigentlich funktioniert“. Im Zentrum der Handlung steht deshalb nicht etwa ein Konflikt oder ein Lernprozess eines Polizisten oder die Lösung eines bestimmten Kriminalfalls. Im Zentrum steht die große Tafel im Gang des Kommissariats, auf der, für alle Mitarbeiter sichtbar, die Namen der Mordopfer und die der zuständigen Beamten notiert werden. Zunächst stehen die Namen dort in roter Schrift, nach der Lösung des Falls in schwarz. Auf diese interne Erhebung der Aufklärungsquote kommt alles an. Die Aufgabe der Mordkommission ist es, rote Namen in schwarze zu verwandeln. Die Tafel im Gang setzt die Mitarbeiter in Konkurrenz miteinander. Sie entscheidet über die weitere Karriere. Sie erklärt, welche Witze sich ein bestimmter Ermittler gefallen lassen muss. Sie bringt Lokalpolitiker dazu, der Polizei ins Handwerk zu pfuschen.
Diese „materialistische“ Perspektive bedeutet nicht, dass Simon individuelle Eigenheiten und Überzeugungen für unerheblich hält, im Gegenteil. Ein großer Teil von Homicide widmet sich der Frage, wie Detective Pelligrini oder Detective Landsman eigentlich ticken. Aber ihr individueller Charakter ist nur insofern von Bedeutung, als sich in ihm der Geist der Institution ausdrückt oder er im Gegenteil dem (Korps-)Geist widerspricht. Als Krimi-Schriftsteller ist David Simon eine Ausnahmeerscheinung. Ihn interessiert nämlich weniger, wer den Mord begangen hat, als vielmehr, was einen zum Mörder macht. Homicide ist kein whodunnit, sondern ein whatdunnit.

David Simon (2011) Homicide: Ein Jahr auf mörderischen Straßen. Übersetzt von Gabriele Gockel, Barbara Steckhan und Thomas Wollermann. München: Kunstmann.

 

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