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"Fairness, Redefreiheit, Fish & Chips"


(Erschienen in Frankfurter Rundschau, 20. Juni 2006)

Braucht eine Gesellschaft einen Kernbestand von Werten? Und können Schulen diesen vermitteln? Was in Deutschland noch umstritten ist, gehört in Großbritannien zum Lehrplan: im Fach Citizenship wird Toleranz und Engagement unterrichtet. Geht es nach Bildungsminister Bill Rammell, sollen bald „traditionelle britische Werte“ unterrichtet werden.

"Erziehung verändert Einstellungen, und sie kann die Gesellschaft verändern." Der britische Bildungsminister Bill Rammell war in seiner Rede vor zwei Wochen (15. Mai) voll des Lobes über die pädagogische Zunft: „Dass wir heute in einer Gesellschaft leben, in der Frauen nicht an den Rand gedrängt, Schwulen und Lesben wegen ihrer Sexualität nicht angefeindet werden, ist zu einem Gutteil das Ergebnis von Erziehung!“ Die Vereinigungen der britischen Lehrer wiesen Rammells Lob allerdings eher wütend als geschmeichelt zurück. "Wir können nicht die soziale Reparaturwerkstatt dieses Landes sein", kommentierte etwa Paul Desgranges von der Gewerkschaft NASUWT.
Auf besonders wenig Begeisterung stößt ein neuer Plan des Ministers. Er will die Gemeinschaftskunde in englischen Schulen, die Citizenship Classes, reformieren, "damit die Muslime in unserem Land besser integriert werden". Bisher waren die ausgesprochen antirassistisch ausgerichtet. Achtklässer basteln beispielsweise oft bunte Masken, mit denen sie die verschiedenen Aspekte ihrer Identität ausdrücken sollen. Diese "Feier der Verschiedenheit" – ein Zitat aus dem staatlichen Lehrplan – wird ergänzt durch Diskussionen und Vorträge über Rassismus und Kolonialismus. Von "britischen Werten" war bisher nicht die Rede.
Aber wie in Deutschland streiten die Briten über eine bessere Integration von Einwanderern. Und auch hier sind es vor allem die Schulen, die für das Gelingen sorgen sollen. Seit den Bombenanschlägen in London im August 2005 hat die Debatte eine besondere Schärfe bekommen. Zum Multikulturalismus bekennt sich heute öffentlich kaum einer mehr. Kürzlich distanzierte sich sogar der Regierungsbeauftragte für Gleichberechtigung Trevor Phillipp ausdrücklich von der Aussage, die britische Gesellschaft sei eine multikulturelle. Nach Vorstellungen des Erziehungsministers nun soll der Gemeinschaftsunterricht erstens verpflichtend werden und zweitens "wesentliche britische Werte" vermitteln. In seiner Rede zählte Bill Rammell „Demokratie, Fairness, Redefreiheit und Verantwortung“ zu diesen – nur um am nächsten Tag heftig kritisiert zu werden. „Es war noch nie möglich, sich auf eine Definition von >Britisch< zu einigen, und es wird auch nie möglich sein“, hieß es in einem Kommentar im linksliberalen Guardian. Gewerkschaften, Elternverbände und auch die konservativen Tories halten in seltener Einigkeit die Reform für überflüssig.

Rhetorische Toleranz, faktische Segregation

In nordenglischen Industriestädten kam es vor fünf Jahren zu tagelangen Straßenschlachten zwischen asiatisch-stämmigen und weißen Jugendlichen. Seitdem schotten sich die beiden Bevölkerungsgruppen eher noch mehr von einander ab. In Bradford sind 22 Prozent der Bevölkerung ihrer Herkunft nach muslimische Asiaten beziehungsweise ihre Kinder. Hier stößt die Regierungsinitiative auf wenig Gegenliebe. "Sollen wir demnächst über Cricket oder Fish and Chips sprechen?" fragt Joan Law rhetorisch. Die Rektorin des örtlichen Business and Law College kann mit Rammells Formulierung von den "traditionellen britischen Werten" nichts anfangen. "Es geht uns an dieser Schule um Respekt. Grundlegende Einstellungen wie Ehrlichkeit, Respekt und Loyalität finden sich meiner Meinung nach in allen Kulturen." Und ihre Kollegin Lyn O’Reilly hält die Initiative der Regierung schlicht "für Geld- und Zeitverschwendung".
Segregation, Desinteresse und Perspektivlosigkeit in vielen Schulen hier gleichen denen in der kürzlich bekannt gewordenen Einrichtung in Berlin / Neukölln. Khadim Hussain, der Vorsitzende Bradfords muslimischem "Moscheenrat" fordert, die Schülerschaft bewusst zu durchmischen: "In der Innenstadt gehören 90 Prozent der Schüler zu Minderheiten. Dort sehe ich keine Weißen!" Tatsächlich schicken immer mehr weiße Eltern ihre Kinder auf konfessionell gebundene Schulen, weil dort keine muslimischen Immigrantenkinder aufgenommen werden. Zweifelhaft, ob Erziehung unter solchen Umständen wirklich "der Antrieb sein kann, durch den die britische Gesellschaft mehr Zusammenhalt und Einigkeit entwickelt", wie Bildungsminister Rammell glaubt.

Citizenship Classes entsprechen etwa der Gemeinschaftskunde. Seit September 2002 sind sie Teil des britischen Lehrplans, besonders zwischen dem 11. und 16. Lebensjahr. Seit 2004 können Schüler dieses Fach auch in der Prüfung der Hochschulreife belegen. Der Unterricht soll nicht nur Wissen über die demokratischen Abläufe, sondern auch Werte wie Toleranz, Respekt und vor allem „aktive Teilnahme“ vermitteln. Nach eher informellen Anfängen wurden die Lerninhalte in den letzten Jahren immer eindeutiger festgelegt. Unterricht werden sie, abgesehen von den speziellen Citizenship Classes, auch in anderen Fächern statt, meist in Geschichte.