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Auf dem Weg ins gesamtgesellschaftliche Panopticon - wirklich?

Kritisches zur Überwachungskritik
(Mai 2009)

 

Wenn Menschen Macht über andere Menschen haben, "überwachen" sie. Soziale Verhältnisse sind Machtverhältnisse, und Verhaltenskontrolle gehört dazu. Eine neue Qualität erreicht der Zugriff durch den technischen Fortschritt immer dann, wenn die Überwachung bisher nur durch hohe Kosten beschränkt wurde.
Man vergleiche die Geschichte des Panopticons, ein früher Rationalisierungsversuch der (damals noch wenig differenzierten) Sozialpolitik:

Morals reformed – health preserved – industry invigorated – instruction diffused – public burthens lightened – ... all by simple idea in Architecture! Der englische Philosoph und Sozialreformer Jeremy Bentham war der erste, der im Jahr 1791 das panoptische Prinzip beschrieb. Als Liberaler wollte Bentham Kontrolle gleichzeitig wirksamer und gewaltloser machen. Das panoptische Prinzip wurde, mehr oder weniger konsequent, seit dem 18. Jahrhundert beim Bau von Fabriken, Armenhäusern und Haftanstalten angewandt. Die architektonische Anlage ermöglicht den Aufsehern, von einem zentralen Standort die jeweiligen Insassen zu sehen. Die Insassen können nicht wissen, ob der Blick ihrer Bewacher gerade auf ihnen ruht oder nicht. Es genügt demnach, einen Aufseher im Turm aufzustellen und in jeder Zelle, einen Irren, einen Kranken, einen Sträfling, einen Arbeiter oder einen Schüler unterzubringen. Vor dem Gegenlicht lassen sich vom Turm aus die kleinen Gefangenensilhouetten in den Zellen des Ringes genau ausnehmen. So beschreibt es der französische Philosoph Michel Foucault in „Überwachen und Strafen – Die Geburt des Gefängnisses“. Gerade weil die Kontrollierten sich nicht sicher sein können, ob sie gerade beobachtet werden, müssen sie davon ausgehen, dass sie es werden. Deshalb müssen die Aufseher selten eingreifen und den Gefangenen die Ordnung aufzwingen und können trotzdem deren Verhalten steuern. Daraus ergibt sich die Hauptwirkung des Panopticon: die Schaffung eines bewussten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt. Die Wirkung der Überwachung >ist permanent, auch wenn ihre Durchführung sporadisch ist<; die Perfektion der Macht vermag ihre tatsächliche Ausübung überflüssig zu machen ... Die Macht (muss) sichtbar, aber uneinsehbar sein ... sofern der Häftling niemals wissen darf, ob er gerade überwacht wird; aber er muss sicher sein, dass er jederzeit überwacht werden kann. Gäbe es eine Liste der meistzitierten Stellen wissenschaftlicher Werke, diese Sätze stünden auf ihr ganz oben. Foucault sah im Panopticon ein Sinnbild für Herrschaft in der Moderne überhaupt. Die zeichne sich dadurch aus, dass sie die Selbsttätigkeit der Unterdrückten nutzt. Fremdbestimmung und Selbstdisziplin greifen ineinander, das erwünschte Verhalten wird übernommen, eingeübt, erlernt.

Heute wird durch die computergestützte und teil-automatisierte Funküberwachung tatsächlich möglich, den Überwachten eine „permanente Sichtbarkeit“, wie Foucault es nennt, aufzuzwingen. Nimmt man noch Videoüberwachung und die vielfachen Datenspuren hinzu, die jeder bei seinem normalen Lebensvollzug hinterlässt (Online-Banking, Kreditkarten, Internetnutzung...), dann scheint die Gesellschaft in Gänze zum Panopticon zu werden.
Das liegt am technischen Fortschritt, nämlich der Digitalisierung. Durch sie wachsen elektronische „Speichermedien“ und „Kommunikationsmedien“ zusammen. Jeder Kommunikationsvorgang mittels Computer oder Telefon hinterlässt ein (mehr oder weniger detailliertes) digitales Abbild – ein Abbild, dass die Behörden der Strafverfolgung später überprüfen und analysieren können, ja, dass sie sogar schon untersuchen können, um ein Verbrechen zu vereiteln! Außderdem lässt sich die Analyse immer mehr automatisieren. Die Verbindungsdaten, die Emails, Sprach- und Bildaufnahmen, alles steht zur Verfügung und kann mit geringem Aufwand nach bestimmten Mustern oder Ausdrücken durchsucht werden.
Bis vor kurzem hinterließen Telefongespräche keine digitale Spur. Nicht einmal wer wen wann anrief, wurde aufgezeichnet. Die Behörden konnten zwar einen bestimmten Anschluss abhören, aber mussten das Gespräch auf ein Tonband aufzeichnen, es vielleicht verschriftlichen, um es später zu analysieren. Das machte Mühe, kostete Zeit und Geld. Ähnliches gilt für die Postzensur: Wie viele Zensoren waren nötig, um die Feldpost einer Armee zu analysieren? Wie viele braucht man heute, wo die Kommunikation zwischen Front und Heimat durch das Nadelöhr des Interenetzugangs muss?
Die Technisierung und (Teil-)Automatisierung soll die Ausgaben senken, und das sind in erster Linie Lohnkosten. Vor dem Hintergrund des "Sparzwangs" müssen elektronische Fußfessel oder auch die Case Management-Systeme bei Polizeibehörden gesehen werden. Schließlich ließe sich jede Auflage in der Bewährungshilfe, jede engmaschige Überwachung auch ganz ohne Computer und Funkfrequenzen durchsetzen: Bewährungshelfer könnten mit Stichproben kontrollieren, ob die Verurteilten sich zu Hause aufhalten, sie beispielsweise auf ihrer Festnetznummer anrufen oder persönlich vorbeikommen. Die Digitalisierung des Prozesses ermöglicht mehr Kontrolle mit weniger Aufwand.

Aber – und das ist ein so banale wie entscheidende Voraussetzung! – die Strafandrohung muss glaubwürdig sein, wenn das Panopticon funktionieren soll. Notwendige Voraussetzung sind Abschreckung und Verinnerlichung. Damals wie heute überschätzen die Theoretiker die Wirksamkeit der Überwachung. Menschen werden zwar überwacht, übernehmen aber die erwünschten Verhaltensweisen eben nicht unbedingt, wie beispielsweise Untersuchungen über Videoüberwachung mit schöner Regelmäßigkeiten belegen.
Von einem „automatischen Funktionieren der Macht“ kann jedenfalls keine Rede sein. Um beim klassischen Beispiel zu bleiben: Immer wieder fordern im Panopticon die Gefangenen die Aufseher heraus, vielleicht zunächst nur mit kleinen Regelverletzungen, um zu überprüfen, ob die immer noch in der Lage sind, die Ordnung durchzusetzen. Foucault verwechselt (oder vermischt wenigstens) Jeremy Benthams Konzept mit den wirklichen Zuständen in den Gefängnissen und Fabriken.
Was ermöglicht das panoptische Prinzip dem Machthaber? Die Kontrollkosten sinken, die der Repression nicht. Genauer gesagt die Kosten sinken insofern, als dass das größere Risiko der Entdeckung abschreckend wirkt.
Sowohl Bentham als auch Foucault legten auf den Aspekt der sinkenden Kosten großen Wert. Ob aber Überwachung abschreckend wirkt, lässt sich gar nicht beurteilen, ohne den gesellschaftlichen Zusammenhang zu kennen, in dem sie zum Einsatz kommt: Wie isoliert sind die Überwachten? Mit was kann die Macht drohen? Wer glaubt ihrer Drohung? Die Warnung von "Datenschützern" vor einem gesamtgesellschaftlichen Panopticon ist deshalb so oft so banal, weil sie Technik aus ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang löst, ohne den sie nichts bedeutet.

 

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