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Langer Abschied vom Flächentarifvertrag?
Die Hans-Böckler-Stiftung stellt das Tarifhandbuch 2006 vor
Den deutschen Gewerkschaften bläst der Wind ins Gesicht. Immer schwerer fällt es ihnen, einen verbindlichen Flächentarif durchzusetzen und ihre Rolle als Verhandlungspartner für die Arbeitgeber zu behaupten. „In Deutschland findet eine grundlegende Umwälzung des Tarifgefüges statt“, sagte Reinhard Bispinck, Leiter des Tarifarchivs des Wirtschafts- und Sozialpolitischen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung bei der Vorstellung des „Tarifhandbuchs 20062“ am 26. April in Berlin. Die Zusammenfassung der Tarifabschlüsse erscheint seit 1991 und untermauert die Erosion von Löhnen, Arbeitsbedingungen und Gewerkschaftsmacht mit zahlreichen Statistiken.
„Die heile Welt des Flächentarifvertrags ist Vergangenheit“, so Bispinck. Immer weniger Menschen in Deutschland werden anhand der Abschlüsse zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften bezahlt. Die aktuellsten Zahlen stammen aus dem Jahr 2004, nach ihnen gelten Tarife nur noch für 53 Prozent der Beschäftigten in Ostdeutschland, beziehungsweise für 68 Prozent im Westen. Noch deutlicher wird der Trend zur Tarifflucht, betrachtet man die Zahl der Betriebe mit Tarifbindung: es sind nur noch 43 Prozent im Westen und 23 Prozent im Osten. Zwischen 1998 und 2004 sind demnach 10 Prozent der Unternehmen ausgetreten. Noch in den 80er Jahren galt ein Flächentarifvertrag für cirka 80 Prozent.
Statt branchenweiter Standards setzen die Arbeitgeber auf Dezentralisierung und Differenzierung. Ihre Verbände nehmen immer mehr so genannte OT-Mitglieder auf, Unternehmen „ohne Tarifbindung“. Vor allem kleinere Betriebe nutzen die Möglichkeit zur politischen Interessensvertretung einerseits und flexiblen Entlohnung andererseits. Allein Gesamtmetall organisiert 2000 Firmen mit etwa 200.000 Beschäftigten.
Andererseits wird durch so genannte Öffnungsklauseln die Lohnpolitik weiter „verbetrieblicht“, außerdem drängen die Arbeitgeber immer stärker auf die Differenzierung innerhalb bestehender Branchen. Nach ihrem Willen sollen etwa „produktionsferne Bereiche“ ausgegliedert werden. Verbandstarifverträge werden durch betriebliche Vereinbarungen ersetzt, auch in den industriellen Kernbereichen. Mittlerweile gibt keine Branche mehr ohne Betriebstarifverträge; besonders häufig sind sie in den ehemaligen und mittlerweile privatisierten Staatsbetrieben in der Telekommunikation, dem Schienenverkehr, der Luftfahrt und Mineralölindustrie. Im so genannnten Dienstleistungssektor außerhalb der Sozialarbeit haben die Gewerkschaften ohnehin keinen Fuß in der Tür, was sich kürzlich wieder eindrucksvoll in den Auseinandersetzungen um einen Betriebsrat beim Softwarehersteller SAP in Waldorf zeigte. Die Macht des DGBs wird zudem durch erstarkende alternative Interessensvertretungen bedroht: Spezialisierte Berufsverbände mit vergleichsweise großer Verhandlungsmacht wie der Marburger Bund oder die Pilotenvereinigung Cockpit machen sich selbständig und scheren sich nicht um Tarifbestimmungen./p>
Strategie – Strategie?
Bisher haben der Deutsche Gewerkschaftsbund und seine Einzelgewerkschaften das schleichende Ende des Flächentarifvertrags kaum verlangsamen können. Statt der Strategie Differenzierung und Dezentralisierung offensiv entgegenzutreten, haben sie die Abschlüsse immer weiter aufgeweicht und mit Ausnahmeregelungen durchlöchert – in der Hoffnung, dadurch die Tarifbindung grundsätzlich zu erhalten. Aktuelles Beispiel ist die in Nordrhein-Westfalen vereinbarte Einmalzahlung von 310 Euro für die Metaller. Sie kann, je nach Lage und Kräfteverhältnis im jeweiligen Betrieb, verdoppelt oder auch ganz gestrichen werden, ohne dass die Gewerkschaft als solche darauf Einfluss nehmen könnte. „Kanalisieren, kontrollieren und begrenzen“ war das Motto, mit dem die Gewerkschaften auch ihren eigenen Einfluss zu retten versuchte. „Jeder Tarif ist besser als keiner!“, sagte Michael Sommer vor drei Jahren. Ob die Strategie „Tarifvertrag um jeden Preis“ für die Arbeiterinnen und Arbeiter oder eher ihre beruflichen Vertreter die beste sei, sagte der DGB-Vorsitzende.
Wie immer, der Versuch der „Re-Regulierung ist offenbar gescheitert, eine andere nicht in Sicht. In Zukunft wollen die DGB-Gewerkschaften verstärkt auf die „zweite Runde“ auf der Ebene der Betriebe setzen, wo die allgemeinen Richtlinien der Tarifvereinbarungen umgesetzt werden. Neue Branchenverträge im Bereich Schienenverkehr und der Wohlfahrtsverbände sollen durchgesetzt werden. Zu beidem allerdings gehören aktive und kämpferische Mitglieder und Betriebsräte, woran es mangelt. Wie eine Gewerkschaft mobilisieren will, die den Armutslöhne beispielsweise für ostdeutsche Friseure und Wachleute abgesegnet haben, weiß man wohl auch bei der Hans-Böckler-Stiftung nicht.
Allerdings könnte nach Auffassung Bispincks der jüngste Abschluss der IG Metall eine Trendwende einleiten, liegt der doch erstmals seit langem über der Inflationsrate. (Bisher lagen die Lohnerhöhungen dieses Jahr bei höchstens 2 Prozent.) Wie sich allerdings der vereinbarte Abbau von Zulagen darauf auswirken wird, was die Metaller tatsächlich aufs Konto bekommen, ist unklar. Es könnte sich herausstellen, dass die symbolträchtige Drei vor dem Komma zu nichts mehr taugt, als Lohnverluste abzuwenden. Auch die beiden wesentlichen politischen Elemente der Gewerkschaftsstrategie haben durchaus Aussicht auf Erfolg, stoßen sie doch auch im Arbeitgeberlager auf Sympathie: Mindestlohn und Ausweitung des Entsendegesetzes. Beide begrenzen die „wilde Konkurrenz“, bei der viele deutsche Mittelständler nicht mithalten können.
Die neusten Zahlen sollte Betriebslinke Anlass sein, ihre Einschätzung der Gewerkschaften im Klassenkampf grundsätzlich zu überdenken. Märkte sind, entgegen der neoklassischen Auffassung, nicht einfach vorhanden, sondern werden staatlich geschaffen. In besonderer Weise gilt das für den Arbeitsmarkt, dem Staat durch seine Bildungssysteme erst die zu handelnde Ware verschafft, und wo er annähernd gleiche Wettbewerbsbedingungen durchsetzt. An Chaos und Regellosigkeit hat das Kapital kein Interesse, und mancher staatliche und gewerkschaftliche Eingriff ins Marktgeschehen ist durchaus auch für Unternehmer von Vorteil. Umgekehrt ist die Regulierung der betrieblichen Auseinandersetzung keineswegs immer im Interesse der lebendigen Arbeit. Und das nicht nur politisch: ein beträchtlicher Anteil der nicht tarifgebundenen Betriebe zahlt höhere Löhne.
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