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"Nervenkranke Studenten rufen zum Umsturz auf"
Jenseits von Selbsterfahrungsgruppe und alternativer Volkshochschule?
Eine Textcollage über das SPK (1997)
In der Psychatrischen Poliklinik an der Heidelberger Universität geschah 1970 Unglaubliches: Patienten weigerten sich, ihrer Einweisungen in das Psychatrische Landeskrankenhaus nachzukommen, sie agitieren andere Patienten und organisierten eine Vollversammlung, kurz: sie machten einen geordneten Klinikbetrieb unmöglich. Sie stellten weitgehende Forderungen: Rücktritt der Klinikleitung, die Rücknahme der Kündigung wegen politischer Agitation entlassener Ärzte, letztlich die Selbstverwaltung der Klinik durch die Patienten.
Für die Mehrzahl der Heidelberger Psychiater wurde die Ordnung der Welt auf den Kopf gestellt. Einer ihrer Kollegen, ein gewisser Dr. Huber, hatte in seinen Therapiegruppen begonnen, die Patienten politisch zu agitieren. Wegen seiner Weigerung, einem Aufnahmestopp für Patienten zuzustimmen, wurde der Arzt entlassen; die Leitung der Pychiatrie warf ihm "Ablehnung der Zusammenarbeit" und "politisch-ideologische Agitation bei Gruppentherapie" vor. Daraufhin besetzten 20 Patienten das Direktorat, einige traten in Hungerstreik. Dadurch konnten sie die Überlassung von Räumlichkeiten für ihre weitere Therapie erreichen. Im Laufe dieser Auseinandersetzung formierte sich das Sozialistische Patientenkollektiv (SPK).
Das SPK wurden von Anfang an von der Universitätsverwaltung, der Presse und der Landesregierung angefeindet, denn die Überlassung von Räumen führte ganz und gar nicht zum Versanden ihrer politischen Aktivitäten. Durch die "therapeutische" Praxis sollte die Aufhebung der Rollenverteilung Arzt/Patient erreicht werden. Eine individuelle "Heilung" o.ä. strebten sie nicht an, denn Therapie konnte für sie nur die Revolution sein: "Das System hat uns krank gemacht, geben wir dem kranken System den Todesstoß!" Das SPK beteiligte sich an linken Leben um die und an der Universität (und die Mitglieder machten sich dort durch ihre kompromißlose Haltung einige Feinde).
Andererseits wurde das Kollektiv zum Anziehungspunkt für Kranke und Linke (und für kranke Linke) aus ganz Deutschland. Das Kollektiv arbeitete bis zur Zerschlagung unter der ständigen Drohung einer Räumung. Polizeischikanen, die Hetze der Presse, kaum Solidarität – verständlich, daß die Sozialistischen Patienten von einer „Vernichtungsstrategie“ gegen sie sprachen. Paranoia? Immerhin führten sie einen Kleinkrieg (= Guerilla), sie erlebten Repression ohne den heute üblichen Feierabend nach der politischen Arbeit.
In der Silvesternacht 1971 wurde ein Brandanschlag auf die Psychatrische Landesklinik in Wiesloch verübt. Nach einer Schießerei mit Polizisten im Juli 1971 in Wiesloch, die für die Polizei in personellem Zusammenhang mit dem Kollektiv stand, wurde das SPK mit einem gewaltigen Polizeieinsatz aufgelöst. Staatsanwaltschaft und Presse behaupteten organisatorische Verbindungen mit der RAF.
310 Polizisten sind also am 21. Juli im Einsatz, um die "verführten Kranken, die eine fachgerechte Behandlung brauchen" (so der damalige baden-württembergische Innenminister) von den politischen Agitatoren zu trennen. Elf Personen, die angeblich dem "inneren Kreis" des Kollektivs angehören, werden verhaftet, darunter Herr und Frau Dr. Huber. Der "Rädelsführer" verschwindet im Knast bis 1976. Das SPK bestand zu diesem Zeitpunkt aus 500 Personen, die Hälfte davon Studenten.
Und so ist die erste Politisierungsphase bei mir ganz wesentlich geprägt von der Auseinandersetzung zwischen dem gerade entstehenden Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) und dem Sozialistischen Patientenkollektiv in Heidelberg. Wir sagten: Das subjektive Elend in dieser Gesellschaft, Krankheit, ist Protest des Organismus gegen krankmachende Verhältnisse, indes in gefesselter, selbstzerstörerischer Form. Dieser Protest muß entfesselt, freigesetzt werden, um ihn gegen die äußeren Verhältnisse zu richten, statt gegen die inneren. Ausgangspunkt kann nicht sein, für andere etwas zu tun, an ihrer Statt zu handeln und zu denken, sie zum Objekt zu machen, ihnen mittels politischer und moralischer Imperative oder durch Ausschlußdrohungen ‚das Richtige‘ aufzudrücken - denn das nimmt ihnen die Möglichkeit, die sinnliche Erfahrung zu machen, es auch selbst zu können. Ausgangspunkt war der und die Einzelnen, wie sie waren, und nicht, wie sie gefälligst zu sein hatten. Solidarität heißt, einander zu helfen, von sich selbst etwas zu verlangen, aus eigener Kraft, aus eigenem Verstand initiativ werden zu können. (Lutz Taufer)
Die Theorie des SPK war eine Zusammenstellung der verschiedensten Elemente: ein kräftiger Rückgriff auf die Kritische Theorie, Marx neu interpretiert, ein paar Spritzer Freud, ein bißchen Wilhelm Reich, aber auch antiimperialistische Versatzstücke und maoistische Rhetorik. Die Agitationsschrift "Aus der Krankheit eine Waffe machen" von 1972 schließt mit einem Vergleich zwischen Vietkong und SPK, der eine große Übereinstimmung in den Zielen und Methoden beider zeigen soll. Wie der Kampf der (lateinamerikanischen) Guerilla sollte auch ihr Kampf einen Fokus bilden, einen Brennpunkt, von dem die Revolte sich ausbreitet. Diese theoretischen Versatzstücke waren Ende der 60er Jahre en vogue und wurden von zahlreichen Gruppen und Initiativen verbreitet. Das entscheidende am Patientenkollektiv aber war ihre Auffassung von Krankheit und die daraus resultierende Praxis.
Das SPK begriff Krankheit als die "Einheit von Protest und der Hemmung von Protest" (Aus der Krankheit eine Waffe machen). Subjektiv wird sie vom Individuum als Leiden empfunden, in Wirklichkeit existiert im Verwertungsprozeß nichts anderes Menschliches mehr; Krankheit ist das Unintegrierte, die Reibung in der Verwertungsmaschine. Gleichzeitig ist Krankheit Voraussetzung und Resultat der kapitalistischen Produktion, der Begriff entspricht ungefähr der Entfremdung. Diese dialektische Auffassung der Krankheit verliert sich leider im Laufe der Zeit und auf dem Weg zur Nachfolgeorganisation, der "Patientenfront".
In dieser Sichtweise von Krankheit ist schon ein entscheidendes Problem enthalten, denn Krankheit ist dann nicht nur der Hauptwiderspruch im Kapitalismus, sondern beinahe alles: Voraussetzung und Resultat der kapitalistischen Produktion, sowohl die reaktionäre (individualistische) als auch die potentiell progressive (kollektive) Reaktion auf sie und schließlich noch der einzige „revolutionäre Gebrauchswert“. Wenn nicht geklärt wird, auf welchen Aspekt sich das Wort Krankheit gerade bezieht, entstehen Aussagen, die alles bedeuten können - nach Belieben.
Das SPK über gesunde Sozialisten:
Charakteristisch für das Verhalten und die Argumentation einer Vielzahl von Leuten (insbesondere Studenten), die sich Sozialisten nennen, ist ihre Einstellung zu Krankheit. Sie sehen Krankheit isoliert, negativ, ausschließlich als Hemmung. Krankheit ist für sie Teil der >Privatsphäre< ein Problem, mit dem jeder selber fertig werden muß und auf keinen Fall die politische Arbeit >stören< darf. Sich als >gesunden< Sozialisten in dieser Gesellschaft zu bezeichnen, impliziert bereits tendenziell ein systemimmanentes Elitebewußtsein.
Konsequenzen des >gesunden< Elitebewußtseins sind: 1. Künstliche Aufspaltung des eigenen Lebens in Privatsphäre und politische Arbeit. Dadurch wird die durch die gesellschaftlichen Verhältnisse induzierte (hervorgerufenen) Trennung von Beruf und Privatleben reproduziert und die politische Arbeit bleibt entfremdete Arbeit. 2. Trennung von Avantgarde und Masse.
Für das SPK waren Kranke "revolutionäre Klasse an sich". Weil es aber Gesundheit nicht gibt ("ein biologistisch-faschistoides Hirngespinst", aus: Krankheit – Die Ganzheit mit Zukunft), sondern nur verschiedene Formen, mit der Krankheit umzugehen, sind alle Menschen potentiell revolutionär. Darüber läßt sich lang und unergiebig streiten, jedenfalls wird hier die humanistische Kritik der Entfremdung aus den Frühschriften von Marx aktualisiert. Die Widersprüche der Krankheit zu entfalten bedeutet, sie zur Waffe gegen die Verhältnisse zu machen. Im Kollektiv wird sie von ihrem reaktionären Element befreit, es kommt zur Konfrontation mit dem Staat – so in der Theorie, so in der Praxis. Aber die Eskalation führte aus zahlreichen Gründen und im Gegensatz zum revolutionärer Optimismus des SPK nicht zum Anwachsen oder einer Radikalisierung, sondern zur Zerschlagung des Kollektivs.
Trotz aller Kritik an Avantgarde-Konzepten: die Tatsache, daß Menschen bereit sind, ihr Leben kämpfend zu riskieren, denunziert die Verhältnisse. Für die Gesunden gelten sie als wahnsinnig, aber sicher können sie sich nicht sein – wer ist hier wirklich verrückt? Die Kompromißlosen werden ausselektiert und umgebracht oder weggeschlossen, sie dienen noch als Exempel, als mahnendes Beispiel. Wer ist noch da, wenn es ernst wird? Auf wen soll sich das Kollektiv beziehen? Auf die Kranken - das sind doch alle. Auf die Linke, diesen randlose Tümpel? Allem Anschein nach werden die es nicht sein, die zuerst rebellieren.
Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. (Marx)
Was läßt sich also heute mit der Erfahrung des Heidelberger SPK anfangen? Wie wir aus Krankheit eine Waffe machen, also Entfremdung in kollektiven Widerstand verwandeln können, läßt sich aus der Theorie des SPK wohl nicht konstruieren, vielleicht aus ihrer Praxis? Es war (immerhin) ein Beispiel für eine aus heutiger Perspektive fremd anmutende politische Subjektivität, der beeindruckende Versuch, das eigene Leiden an den Verhältnissen gemeinsam zu bekämpfen, anstatt wechselnde revolutionäre Subjekte anzubeten. Das SPK steht über der schlechten Alternative von narzistischen Selbsterfahrungsgruppen und privatistischem Gejammer einerseits und revolutionären Missionaren, die nur das Beste für alle wollen. Politik ohne Subjektivität führt zu einer Veranstaltungskultur, einer alternative Volkshochschule, in der jede/r gerne DozentIn wäre, aber niemand bereit ist, praktisch etwas zu riskieren.
Damit in engem Zusammenhang steht ihre Auffassung von Theoriebildung überhaupt. In dem Buch Aus der Krankheit eine Waffe machen steht über jedem Kapitel der Satz "Dieser Text ist erst ein Anfang...". Die Verfasser wollten eine Vermittlung von Theorie und Praxis, erst die (revolutionäre) Aktion macht die Theorie wahr, und in der Praxis wird die Theorie aufgehoben, also auch zerstört. Es geht hier nicht um das Herausfinden fertiger Weisheiten, die fertig als politische Gebrauchsanweisung dienen können, sondern die Theorie spiegelt denn Stand einer Auseinandersetzung. Das folgende Zitat wäre ein schönes Motto für zukünftige Texte.
Agitationsschrift – Konsumobjekt oder Produktionsmittel? Falls sich dieser Text als völlig unverdaulich, nicht konsumierbar erweist, so kann die Folgerung aus dieser Erfahrung nur sein, daß man ihn negiert, ihn in der Praxis dialektisch aufhebt!
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