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Großbritannien ist eines der Lieblingsbeispiele deutscher Ökonomen: je nach politischer und theoretischer Ausrichtung entweder als mahnendes oder nachahmenswertes Beispiel. Für die einen zeigen sich hier die sozialen Verwüstungen, die Thatchers Neoliberalismus hinterlassen hat, die anderen verweisen auf stabiles Wirtschaftswachstum und niedrige Arbeitslosenzahlen. Wie häßlich ist die häßliche Seite des englischen Aufschwungs wirklich? Und was können deutsche Sozialpolitiker hier lernen?
„Die besten Arbeitsämter Europas”
(erschienen in der Jungle World im Juli und August 2003)
Linda ist arbeitslos, und das ist nicht nur für sie schlecht, sondern auch für ihren Sachbearbeiter. Der muß sie nämlich beraten, und nur gelungene Vermittlungen machen sich wirklich bezahlt. Mitarbeiter in englischen Vermittlungsagenturen werden mittlerweile mit Erfolgsprämien motiviert. Das ist auch nötig, denn seit der Reform der Arbeitsämter wurde kontinuierlich Personal abgebaut und die Masse der Beratungen ist kaum zu bewältigen. Regelrechte Arbeitsämter gibt es in Großbritannien nicht mehr, statt dessen sogenannte Job Center Plus: schicke klimatisierte Büros mit neuen Computern, Teppich und musikalischer Dauerberieselung. Hier ist der Arbeitslose Kunde – solange er sich motiviert zeigt. Dennoch klagen Angestellte, dass tätliche Angriffe ihrer Kunden in letzter Zeit immer häufiger werden, und wünschen sich die sichernden Glasscheiben von früher zurück.
Nach seiner Besichtigung eines Londoner Jobcentres im vergangenen Monat war der deutsche Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement so beeindruckt, dass er sagte, dieser sei “der beste in Europa”. Linda besucht also das beste Arbeitsamt Europas, aber sie ist weniger beeindruckt. Ganze 43 Pfund Sozialhilfe / Arbeitslosengeld in der Woche erhält sie; wer älter ist als 24 Jahre bekommt 54 Pfund. In Sonderfällen sind noch besondere Leistungen zu haben. Unter Margret Thatcher wurde ein surreales Kreditsystem auf den Sozialämtern eingeführt: Bedürftige können prinzipiell Geld für besondere Leistungen, beispielsweise für neue Vorhänge oder einen Kühlschrank, nur leihen: je kreditwürdiger, desto mehr Leistung.
Der Willkür der Betreuer sind dabei kaum Grenzen gesetzt. Ein Viertel aller Entscheidungen wird gerichtlich revidiert, wenn sich die Leistungsempfänger zu einer Klage entschließen, was aber selten vorkommt. Ein engmaschiges Kontrollsystem stellt sicher, dass sogenannte Sozialbetrüger keine Chance haben. Wer zwischen 18 und 24 Jahre alt ist, dem können bei Fehlverhalten für vier Wochen sämtliche Leistungen (bis auf das Wohngeld) gestrichen werden. Glücklich, wer jetzt Freunde hat oder sich wenigsten mit seiner Familie gut versteht, denn vom Staat können junge englische Arbeitslose in diesem Fall nichts erwarten.
Linda hat schon über dreizehn Wochen Arbeitslosengeld bezogen, deshalb spielt ihre frühere Qualifikation nun keine Rolle mehr. Dabei ist sie glücklich, dass sie überhaupt wieder anspruchsberechtigt ist. Ihre letzte Stelle hat sie selbst gekündigt, was ihr eine halbjährliche Sperre einhandelte. „Es war einfach zuviel”, sagt sie, „über 50 Stunden die Woche und jeden Tag noch zwei Stunden Fahrtzeit dazu!” Großbritannien hat die längsten Wochenarbeitszeiten in Europa, 50 oder gar 60 Stunden sind keine Seltenheit.
Staatliche Subventionen für billige Arbeit
Die neuen Jobvermittlungsagenturen werden gerne auch “Karrierezentren” genannt. Welche Karriere ist also heute für Linda im Angebot: putzen im Krankenhaus, beschäftigt bei einer Zeitarbeitsfirma? Oder doch lieber in die Altenpflege? Sie hat schon mal als Elektrikerin gearbeitet, aber die werden gerade kaum gesucht. Aber in den zahllosen Call Center ist immer eine Stelle frei. Angeblich waren Mitte der 90er Jahre in England mehr Menschen mit Telephonmarketing beschäftigt als im produzierenden Sektor.
Telephonieren für etwas mehr Geld, als es der Mindestlohn vorschreibt, das ist nichts für sie. New Labour hat diesen Mindestlohn eingeführt und feiert ihn gerne als historischen Durchbruch. Ursprünglich waren es 4 Pfund 10, im März wurde der Betrag um 40 Pence erhöht. Das ist so niedrig, dass sogar der Widerstand der Arbeitgeber verhalten war, obwohl sie natürlich diese Marktverzerrung im Prinzip ablehnten. Von einem solchen Stundenlohn läßt sich kaum überleben, vor allem nicht in London. Der Gegenwert einer durchschnittlichen Miete in der Hauptstadt sind 19 Stunden Mindestlohn, der einer Schachtel Zigaretten eine Stunde. Kein Wunder, dass manche Engländer zwei oder sogar drei solcher Jobs annehmen müssen, um einigermaßen über die Runden zu kommen.
Die Job Center arbeiten eng mit lokalen Leasingfirmen zusammen. Wer wie Linda jünger als 24 ist, hat genau vier Möglichkeiten: unbezahlte Arbeit in einer Wohltätigkeitsorganisation, in einer Umweltschutzinitiative, eine Vollzeitausbildung, meistens aber Arbeit mit staatlicher Unterstützung – “es gibt keine fünfte Möglichkeit”, betonte Finanzminister Gordon Brown bei der Vorstellung des neuen Systems. Steuervergünstigungen stellen sicher, dass es mehr lohnt, schlecht bezahlte Arbeit als den Mindestsatz Sozialhilfe zu beziehen.
Wer mehr als 16 Stunden in der Woche arbeitet, gilt als beschäftigt und taucht fortan in der Arbeitslosenstatistik nicht mehr auf. Wer trotzdem zu wenig verdient, behält einen Teil der staatlichen Unterstützungen. Die Arbeitslosenquote, ohnehin absichtsvoll durch statistische Finessen klein gehalten, wird mit der staatlichen Subvention eines riesigen Niedriglohnsektors erkauft, vor allem in den öffentlichen Diensten. In englischen Krankenhäusern werden Reinigung und Küche üblicherweise von mehreren verschiedenen Agenturen organisiert. Das Personal arbeitet für den Mindestlohn, manchmal auch für weniger als gesetzlich vorgeschrieben – was theoretisch illegal ist, aber wofür sich außer den Betroffenen kaum jemand interessiert.
Die Schriftstellerin Polly Toynbee machte im Herbst vergangenen Jahres den Versuch, vom Mindestlohn zu überleben, und arbeitete einige Wochen als schlecht bezahlte Putzfrau, Altenpflegerin und in anderen Gelegenheitsjobs. Ihre Erfahrungen verarbeitete Toynbee in der Sozialreportage ‚Harte Arbeit‘, die in der britischen Öffentlichkeit zur Zeit heftige Diskussionen auslöst. „Wir haben eine hohe Arbeitslosenquote eingetauscht für Massen von arbeitenden Armen”, sagt sie im Gespräch mit JUNGLE WOLRD. „Es muß endlich Schluß gemacht werden mit der staatlichen Subventionierung von Löhnen, von denen man nicht leben kann.”
Obwohl sie es öffentlich nicht aussprechen, ist auch manchem Unternehmer klar, dass mit den Lohnzuschüssen unproduktive Firmen am Leben gehalten werden, die ansonsten in der Konkurrenz nicht gewachsen wären. Der Dienstleistungssektor wird aufgebläht, ohne dass nachhaltige Arbeitsplätze oder nennenswerte Profite entstünden. Mehr als 25 Prozent aller Beschäftigten leben von Gelegenheitsjobs. Umfragen zeigen ihre wachsende Unzufriedenheit. Auf Arbeitslose wird so lange Druck ausgeübt, bis auch der mieseste Job noch angenehmer ist als von der Sozialhilfe zu leben.
„Das Ziel seit den 80ern ist, die Menschen aus der Abhängigkeit heraus in Arbeit zu vermitteln”, erklärt Martin Evans, Experte für Sozialpolitik an der Universität von Bath. Seit Sozialhilfe und Arbeitsvermittlung zusammengelegt wurden, ist das übergeordnete Ziel der Sozialpolitik, die Armen zu beschäftigen. Im Frühjahr wurden wieder zahlreiche Bestimmungen verschärft: nun gelten anderthalb statt einer Stunde Fahrtzeit zum Arbeitsplatz als zumutbar, und die Arbeitslosen müssen sich wöchentlich melden, um zu belegen, dass sie auch wirklich “aktiv Arbeit suchen”. Eine regelrechte Arbeitslosenbewegung gibt es trotzdem auch in England nicht. Shanty Halft vom unabhängigen Zentrum Unemployed Workers Brighton macht die Unübersichtlichkeit des Systems mitverantwortlich dafür, dass Arbeitslose individuelle Auswege suchen statt zu protestieren und sich zu organisieren. Die Gruppe berät Arbeitslose in rechtlichen Angelegenheiten und protestiert gelegentlich gegen die lokalen Vermittlungsagenturen. “Die Leute zögern, aktiv zu werden”, sagt Shanty. Für sie ist die Subvention des Niedriglohnsektor vor allem ein Mittel, die Löhne insgesamt zu drücken und eine “Kultur der Nichtbeschäftigung” zu verhindern.
Auf dem Sprungbrett
“Der moderne Sozialstaat wird wie ein Sprungbrett funktionieren”, sagte Tony Blair bei seinem Amtsantritt. Statt die Unterklasse nur zu finanzieren sollte mit dem beziehungsreich betitelten Programm New Deal den Armen Chancen zum sozialen Aufstieg eröffnet werden. “Wir werden dafür sorgen, dass es Arbeit gibt; nun seid ihr an der Reihe, euren Lebensunterhalt auch zu verdienen”, gab Finanzminister Gordon Brown damals den Arbeitslosen mit auf ihren weiteren Karriereweg.
Aber die Rhetorik vom “New Deal” funktioniert nach sechs Jahren nicht mehr, und die Bilanz sieht nicht schmeichelhaft aus. Trotz des vollmundigen Versprechens, Kinderarmut “innerhalb von zehn Jahren” abzuschaffen liegt sie immer noch bei 30 Prozent (in Deutschland sind es 19). Ein Fünftel aller Schulkinder ist auf eine kostenlose Mahlzeit angewiesen. Schätzungen, die wegen der umstrittenen Definition von Armut allerdings mit Vorsicht zu genießen sind, besagen, dass 17 Prozent aller Engländer trotz Arbeit arm sind. Zwar hat sich absolut die Lage der Armen in den letzten acht Jahren leicht verbessert, aber die soziale Ungleichheit (relative Armut) hat sich dramatisch verschärft. Obwohl New Labour die Parolen von Chancengleichheit bis zum Überdruss wiederholt, ist die soziale Mobilität heute geringer als vor 40 Jahren.
Die Subvention des Niedriglohnsektors senkt den Preis der Arbeitskraft, aber es sind letztlich die Steuerzahler, die die Niedrigstlöhne aufbessern. Das ist politisch brisant, denn die Briten sind vom Hass auf die Steuer geradezu besessen. Und nun, da sich die Anzeichen mehren, dass der lange Aufschwung der britischen Volkswirtschaft zu Ende geht, sind Volk und Regierung irritiert. Das Wirtschaftswachstum betrug 2002 nur 1,6 Prozent, der niedrigste Wert seit zehn Jahren. Die Exportrate ist scharf gefallen, und zum ersten Mal seit langem steigt auch wieder die Arbeitslosigkeit. Nicht genug: die Bank of England senkte vor zwei Wochen den Zinssatz, um dem sinkenden Konsum anzukurbeln, dabei ist schon jetzt jeder vierte Haushalt überschuldet und theoretisch pleite.
Vor der letzten Parlamentswahl, als die Briten sich noch einiges auf ihr Wirtschaftswunder einbildeten, versprach New Labour, in Krankenversorgung und Bildung zu investieren. Blair wurde wiedergewählt, weil er versprach, die maroden öffentlichen Dienste zu sanieren, aber das politische Risiko, Steuern massiv zu erhöhen kann er nicht eingehen. Sein Vertrauensvorschuß ist lange aufgebraucht, und die Regierung bleibt an der Macht nur mangels einer politischen Alternative für die Wählerschaft.
Neue Unübersichtlichkeit und fetter Staat
Das Sozialsystem Englands ist so kompliziert, dass selbst Experten Schwierigkeiten haben, herauszufinden, wem welche Leistung zusteht. Wer beispielsweise ins Krankenhaus kommt, muss eine Unzahl von verschiedenen Zahlungen einzeln beantragen. Je nach Situation stehen Child Tax Credit, Income Support, Statutory Sick Pay, Reduced Earnings Allowance, Jobseeker’s Allowance zur Auswahl – um nur einige zu nennen, und ein nicht unerwünschter Nebeneffekt ist dabei, dass viele gar nicht erst versuchen, sich durch dieses institutionalisierte Chaos durchzukämpfen.
Das Klischee will es, dass der britische Staat neoliberal und schlank ist, sich also auf seine repressive Aufgaben zurückzieht, Nachtwächter und Tagespolizist und sonst nicht viel. Das ist mehr als mißverständlich: die staatlichen Sozialausgaben sind seit 1983 kontinuierlich gestiegen, ob nun Sozialdemokraten oder Konservative an der Macht waren. Der Sozialstaat wuchert, nur verwischen sich seine Grenzen. Britische Sozialwissenschaftler sind sich wegen Outsourcing und Scheinselbständigkeit schon lange nicht mehr sicher, wie viele Menschen eigentlich für den Staat arbeiten. Die öffentlichen Dienste werden nicht einfach privatisiert, sondern es entsteht eine Grauzone, sogenannte Public Private Partnerships, wo Staat und privates Kapital verflochten sind. Das jüngste und heftig umstrittene Beispiel ist der Plan der Regierung, privaten Investoren zu ermöglichen, ihr Geld in “profitable” Krankenhäuser anzulegen.
Es ist üblich, dass Arbeitsuchende im Dienstleistungssektor bei einem Vorstellungsgespräch einen Vertrag unterschreiben, dass sie auf bestimmte gesetzliche Rechte, die maximale Wochenarbeitszeit beispielsweise, “freiwillig verzichten”. In Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit wurden sogenannte Employment Zones eingerichtet, wo private Vermittler tätig sind und bestimmte gesetzliche Arbeitsbestimmungen außer Kraft gesetzt werden. Ihr Ziel ist es, vor allem Langzeitarbeitslose zu vermitteln. Diese Sonderzonen sind Experimentierfelder, wo Maßnahmen erprobt werden, um später in anderen Gegend eingesetzt zu werden. Andererseits wird die zentrale Erfassung und Kontrolle der Arbeitslosen erhöht.
Ohne langfristiges wirtschaftliches Konzept kommt die autoritäre Seite der Sozialdemokratie voll zum Tragen. 1997 lautete ein Wahlslogan der Labour Party: “Arbeit für alle, die arbeiten können – Hilfe für die, die es nicht können”. Öffentlich kaum beachtet wird versucht, Behinderte und chronisch Kranke irgendwie zu beschäftigen. Im Winter häuften sich Gesetzesinitiativen und öffentliche Verlautbarungen zur Bekämpfung von Gesetzlosigkeit und Rowdytum, und Gesetzesinitiativen und Presseerklärungen sind dabei eng verflochten. Elf neue Gesetze gegen Kriminalität wurden seit Blairs Wahlsieg verabschiedet, aber viele Richter und Polizisten können mit den neuen Gesetzen nichts anfangen, und setzen sie in der Praxis einfach nicht um.
So erging es auch einer Initiative vom Januar diesen Jahres: Die ursprüngliche Idee, verurteilte Bettler mit einer Strafe von bis zu 1000 Pfund zu belegen, war ebenso tragisch wie komisch. Ein Polizeisprecher sagte damals: “Die Strafe ist sehr schwer einzutreiben, weil Bettler sozusagen per Definition nicht so viel Geld haben!” Statt dessen sollten Obdachlose zur Zwangsarbeit verpflichten werden, aber die sozialen Einrichtungen, in denen sich Obdachlose ihre Unterstützung künftig erarbeiten sollten. wollten mit dem Projekt nichts zu tun haben oder fanden schnell heraus, dass es sich unter den gegeben Umständen nicht lohnt, derart motivierte Arbeit zu beschäftigen.
Noch nie waren so viele Menschen in Großbritannien in Gefängnissen eingesperrt wie heute. Brandneu und ganz im Trend ist die Idee, “ungefährliche Straftäter” bei ihren Arbeitsstunden von privaten Security - Firmen oder Wohlfahrtsorganisationen betreuen zu lassen. Wenn Sozialisten die momentane Regierung kritisieren, benutzen sie deren Selbstbezeichnung wie ein Schimpfwort: New Labour, das ist das Böse selbst, und Blair und sein Kreis gelten als Arbeiterverräter, die sich tückisch in Amt und Würden gedrängelt haben. Ist die angeblich neue Partei wirklich korrupt und nett zum Kapital, während die alte sozialistisch war? Eine vorurteilsfreie Bestandsaufnahme relativiert das Bild: tatsächlich war Labours Sozialismus auch früher eine eher rhetorische und symbolische Angelegenheit. Der Einfluß der Gewerkschaften blieb immer begrenzt. Die Kernwerte der Sozialdemokratie waren Chancengleichheit und das Recht auf und die Pflicht zur Arbeit, und auch daran hat sich nichts geändert.
Was sich geändert hat, ist die Professionalisierung der Propaganda. Offizielle Planziele wie die Abschaffung der Kinderarmut werden öffentlich mit Getöse verkündet, um ein halbes Jahr später vergessen zu werden. Aus alt wird neu, aus dem Arbeitsamt ein Karrierezentrum, ohne dass sich an der täglichen Praxis viel ändert. Dafür sind in den Informationsbroschüren nun gute Ratschläge zu haben wie „Entlassen zu werden, kann oft Bitterkeit und Wut erzeugen! Es ist wichtig, dass Sie diese negativen Gefühle schnell überwinden, um nun für ihre neue Arbeitsuche gerüstet zu sein.” Umbenennen und den Druck erhöhen, das sind die englischen Rezepte, die deutsche Sozialpolitiker hier lernen können.
Vor der harten Landung?
Die Polizei war verwirrt. Während einer Demonstration im Februar in Devon protestierten Rentner, organisiert von Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden, lautstark gegen eine Erhöhung der council tax und für eine deutliche Rentenerhöhungen. Ihre Parole: ‚Schluss mit der Altersarmut!‘ Auf einer Straßenkreuzung blockierten sie den Verkehr mit einer Sitzblockade. Danach versuchten sie, das Rathaus zu besetzen, woran die Senioren aber gehindert werden konnten.
Joy Moss, eine Sprecherin der gewerkschaftsnahen ‚Greater London Pensioners Association‘ äußert sich bitter über New Labour: „Diese Regierung hat uns betrogen!”. Sie fordert, die Renten wieder an die Entwicklung der Reallöhne anzukoppeln. Das fordert auch die Kampagne ‚Helft den Senioren’, eine gemeinsame Initiative englischer Wohlfahrtsverbände. Für ihren Sprecher Richard Wilson ist es an der Zeit, endlich etwas gegen die Altersarmut zu unternehmen. „Wir schätzen, dass jeder vierte englische Rentner unter der Armutsgrenze lebt.” In Südlondon beispielsweise ist es kein ungewöhnlicher Anblick, alte Frauen und Männer zu sehen, die auf dem Nachhauseweg vom Supermarkt noch schnell den Mülleimer durchsuchen. Auf die Gesamtbevölkerung sind das extreme Ausnahmen; die Mehrheit der Bevölkerung ist heute finanziell besser gestellt als vor zwanzig Jahren. Aber wie bei den Jungen steigt auch bei den Alten die relative Armut: die Kluft zwischen Wohlhabenden und Verarmten wächst.
Das Problem Altersarmut wird verschärft durch die immer drängendere Krise des englischen Rentensystems. In England existieren Betriebsrenten, staatliche Renten und private Altersvorsorge nebeneinander, aber die heute Dreissig- bis Vierzigjährigen sparen nicht annähernd genug, um im Alter versorgt zu sein. Seit die Aktienblase geplatzt ist, haben Privatanleger Einbußen hinnehmen müssen. Aber noch fataler ist die Entwicklung der englischen Betriebsrentenkassen: sie haben noch hemmungsloser als die anderer europäischer Länder ihre Rücklagen in Aktien investiert. Nach konservativen Schätzungen sind diese heute die Hälfte weniger wert. Führende Unternehmen wie beispielsweise Rolls Royce, British Petrol oder British Telecom werden ihre Betriebsrenten nicht auszahlen können, ohne den Bankrott zu riskieren. Die britische Post kündigte im vergangenen Monat an, „wegen ihrer leeren Pensionskasse das Porto erhöhen zu müssen”.
Ungefähr 9 Millionen Arbeiter und Angestellte sind auf Betriebsrenten angewiesen. Die Aussicht, sich im Alter einschränken zu müssen, beginnt für Unruhe zu sorgen. Im Juni demonstrieren Stahlarbeiter in London, weil ihre Renten durch den Konkurs ihrer Firma weg sind und erzwangen eine Ausgleichszahlung. Andere Belegschaften folgen ihrem Beispiel.
Die meisten der Arbeiter und Angestellten mit einem Jahresverdienst unter 20 000 Pfund werden auf die Staatsrente angewiesen sein: im Moment ganze 77.45 Pfund in der Woche (etwa 110 Euro). Der Minister für Arbeit und Renten Andrew Smith hat im vergangenen Monat angekündigt, dass nach seinen Vorstellungen das Rentenalter angehoben werden muss. Die Rede ist von fünf Jahren, also Männer bis 70 und für Frauen bis 65. Smith will Unternehmen auch ermöglichen, unter bestimmten Umständen die Inflation nicht mehr ausgleichen müssen. Die Gewerkschaften lehnen das ab, und große Teile der Bevölkerung zeigen sich empört.
Eng verbunden mit der Krise der Renten ist die des Immobilienmarkts. Durch niedrige Zinssätze für Bausparverträge förderten die Konservativen den Immobilienbesitz, durchaus ideologisch und entsprechend ihrem Schlagwort von der “der Demokratie der Immobilienbesitzer“. Keine Maßnahme der Tories war so populär wie die Gesetze, die Mietern ermöglichten ihre Sozialwohnung zu kaufen. Die Preise stiegen und wollten gar nicht mehr aufhören zu steigen. Mit einer Londoner Einfamilienhaus oder sogar einer Sozialwohnung ließ sich in den 90ern ein Vermögen verdienen.
Nun sind kaum noch Sozialwohnungen zu haben, die Mieten sind die teuersten Europas, aber viele zählen sich als Hausbesitzer stolz zur Mittelklasse. Zu Recht? Eine aktuelle Studie der unabhängigen Joseph Rowntree Foundation hat ermittelt, dass die Hälfte der Armen tatsächlich Hausbesitzer sind (18 Prozent Besitzer, 32 Prozent mit Hypothek). Zwar besitzen 70 Prozent aller Engländer ein Haus, aber ein großer Teil davon gehört ihren Besitzern nur nominell. Hausbesitzer bilden die eigentliche soziale Basis der britischen Europafeindlichkeit, denn, so fürchten sie, nach einem Beitritt zur europäischen Währungsunion werden die Immobilienpreise sinken.
Es verbreitet sich die Einsicht, dass es sich beim Immobilienboom der vergangenen Jahre um eine Finanzblase handelt. Börsianer sprechen öffentlich von einer nötigen Abwertung um mindestens zwanzig Prozent. Die Auswirkungen davon könnten fatal sein: Viele hielten das eigene Haus für eine sichere Geldanlage. Nun brauchen sie es für ihre Altersversorgung, entweder weil sie die Mieteinnahmen nötig haben, um ihre dürftigen Renten aufzubessern, oder um darin mietfrei zu wohnen.
“Warte nicht – hol es dir jetzt!”
Aber nicht nur die Rentenkrise und die Immobilienblase machen den Briten Sorgen. Die Überschuldung der privaten Haushalte ist noch beängstigender. Der durchschnittliche Haushalt hat Schulden entsprechend 130 Prozent seines Jahreseinkommens, und knapp ein Viertel der britischen Haushalte ist überschuldet. Dass der Zinssatz im Juli noch einmal gesenkt wurde, hat noch einmal das Wachstum angekurbelt, aber nun ist für die Bank of England kein Spielraum mehr vorhanden. Ciaran Barr, Ökonom von Deutschen Bank, urteilte kürzlich vernichtend über die Strategie der Kollegen: “Um mit der Blase fertig zu werden, hat die Bank of England in Wirklichkeit eine neue geschaffen.”
Der Zinssatz in Großbritannien ist nun so niedrig wie seit 48 Jahren nicht mehr, aber Finanzexperten beginnen sich Sorgen zu machen, was die unvorstellbare Masse an Krediten eigentlich noch wert ist. Im vergangenen Jahr waren es 40 Milliarden Pfund. 10 Milliarden Pfund neue Kredite wurden im Juni aufgenommen. Insgesamt sind die Schulden über Kreditkarten, Überziehungskredite und Hypotheken in diesem Jahr noch einmal um 14 Prozent gestiegen. Wie sollen solche Summen während Steuererhöhungen und geringen Lohnzuwächsen jemals zurückgezahlt werden? Kein Wunder, dass die Kommentatoren der bürgerlichen Blätter wieder die Moral entdecken, und die englische “Kredit-Kultur” plötzlich unanständig finden.
“Warte nicht – hol es dir jetzt!” Die Werbung einer großen Bank schreit es heraus, das Verlangen nach den konsumfreudigen Jugendlichen, gerade mit dem Eintritt ins Erwerbsleben beschäftigt. Bald werden sie sich paarweise zusammenfinden, Kinder zeugen und ihre Inneneinrichtung auf Kredit kaufen. Viele Handelsketten haben eigene Kreditsysteme; “Kauf es jetzt - bezahle später!” ist ein beliebter und häufiger Werbeslogan. Ein privates Radio hat die Zeichen erkannt und strahlt eine Sendung zum Thema Schulden aus. Bei Experten können sich die Hörer Rat holen. Einer der Anrufer, ein vierzigjähriger Arbeiter, schuldet der Bank 48 000 Pfund. Das ist viel, aber nicht überdurchschnittlich. Regelrechte Sorgen macht er sich trotzdem nicht: “Wenn es hart auf hart kommt, werde ich einfach mein Haus verkaufen und irgendwo billig zur Miete wohnen.” Dieses Kalkül ist typisch, aber könnte sich als Illusion erweisen.
Noch lassen sich die Engländer durch Geldmangel nicht vom Konsumieren abhalten. Und Großbritannien ist führend in Europa: die längsten Arbeitszeiten, die meisten tödlichen Arbeitsunfälle, die wenigsten Arbeitslosen. In einer Gesellschaft, die so geprägt ist von Arbeitsstreß und Konkurrenzdruck wie diese, zum Konsumverzicht aufzurufen, hat wenig Aussicht auf Erfolg. Kein Urlaub, keine Kreditkarte, kein wildes Wochenende und keinen Videofilm am Montag? Ein schönes englisches Sprichwort sagt: “Wenn ich dir zehn Pfund schulde, habe ich ein Problem. Wenn ich dir tausend Pfund schulde, hast du das Problem.” Wessen Problem die Schulden der Briten wirklich sind, wird sich herausstellen, wenn die englische Wirtschaft zur harten Landung ansetzt.
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