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„Heute Abend im Fernsehen: Alles."Videoüberwachung neuer Qualität: in London sollen Bewohner ihr Viertel selbst beobachten. James Morris ist stolz: „Ehrlich gesagt hat mich dieses Interesse selbst überrascht!“ Seit im Januar die Pläne von Shoreditch Trust, einem Londoner Wohlfahrtsverband, bekannt wurden, kann sich der Vorstandsvorsitzende der Anfragen von Journalisten und Stadtpolitikern kaum erwehren. Sogar aus dem Ausland kommen interessierte Anrufe – kein Wunder, denn was Morris plant, ist weltweit einzigartig: bald sollen bis zu 20.000 Menschen Zugang zu den Aufnahmen von Überwachungskameras erhalten und von ihren heimischen Fernsehgeräten und Computerbildschirmen aus ihre Nachbarschaft beobachten. Im Zentrum der Überwachung steht kein Großer Bruder, sondern viele verschiedene Datensammler. Das jetzt anlaufende Projekt in Shoreditch allerdings hebt die Überwachung auf eine neue Ebene: eine Nachbarschaft überwacht sich selbst. Verdächtig und daher im Fokus der Kameras ist jeder. „Er wird gesehen, aber er sieht nicht; er ist das Objekt von Information, aber niemals das Subjekt in einer Kommunikation“ – so beschrieb der französische Philosoph Michel Foucault die Funktionsweise dessen, was er Panoptikum nannte. In der panoptischen Anordnung von Architektur und Beobachtungsgeräten wähnt sich der Gefangene ständig unter Beobachtung, bis er schließlich verinnerlicht, was von ihm verlangt wird. Geboren wurde das Panoptikum lange vor Foucaults Zeit: schon der Moralphilosoph Jeremy Bentham und noch vor diesem der Universalgelehrte Wilhelm Gottfried Leibnitz haben es in den Gefängnissen und Arbeitshäusern des 17. Jahrhunderts erkannt. Keinen Winkel, keine Ecke darf im Panoptikum Schutz vor der Beobachtung bieten; was die Sicht versperrt, wird entfernt. Was so entsteht, nennt Foucault „einen segmentierten, bewegungslosen, gefrorenen Raum“.Dagegen wirken die vier Straßen um die Haberdasher Estates geradezu harmlos. Ein Hochhaus, daneben ein langgestrecktes vierstöckiges Gebäude mit Innenhof und Garagen, hässlich und heruntergekommen wie der britische soziale Wohnungsbau aussieht, ein paar renovierte Häuser und kleine Läden dazwischen. Manche Bewohner pflegen ihre Blumenkästen, andere wechseln ein paar Worte, wenn sie sich auf dem Gang oder der Straße begegnen. Es ist ein ruhiger Nachmittag, nur später am Abend wird es etwas lauter werden, wenn sich die Betrunkenen aus den Kneipen auf der Hauptstraße auf den Nachhausweg machen. Unten bei den Garagen langweilen sich ein paar Kinde, misstrauisch schauen sie dem Fremden nach. Ob sie von den Kameras gehört haben? Was für Kameras, kommt die Gegenfrage. „Ja, davon habe ich gehört“, meint ein alter Mann, in dessen freundlichem Lächeln einige Zähne fehlen, „interessiert mich aber nicht. Ich seh sowieso lieber Fußball.“ Selbst die Befürworter in dem Wohnblock bezweifeln, dass sie die Kameras langfristig nutzen werden. „Es geht ja mehr um Abschreckung“, meint John, der kürzlich seine Wohnung hier gekauft hat. „Damit diese Leute sich nicht asozial verhalten, weil sie beobachtet werden. Aber werde ich wirklich stundenlang die Garagen beobachten? Wohl kaum.“ „Das ist ne gute Sache“, meint dagegen Lisa. Findet sie denn nicht, dass ihr Privatleben durch die Maßnahme eingeschränkt wird? Sie lacht: „Ich kümmere mich um mich und meine Familie, ich gehe arbeiten und ansonsten bleibe ich zuhause. Wer soll das interessant finden?“ An einer Einfahrt hängt ein Plakat, eine Werbung für Shoreditch Digital Bridge. Eine junge hübsche Frau ist darauf abgebildet, der Text: „Hier ist eine kreative Gegend – werde ein Teil davon!“ Als kreativ gilt Shoreditch allerdings erst seit in den späten 90er Jahren. Eingeklemmt zwischen den südasiatisch geprägten Elendsquartieren um Whitechapel und dem Bankenviertel Londons, der City, wo an der Börse täglich Milliarden gehandelt werden, war Shoreditch lange Zeit die letzte Bastion der weißen Arbeiterklasse im East End, die sich sowohl von den Einwandern aus dem Commonwealth als auch den Kindern aus der Mittelschicht abgrenzte, die auf Suche nach billigem Wohnraum hierher kamen. Lange hatte die faschistische National Front hier ihre besten Wahlergebnisse im eigentlich sozialdemokratisch geprägten Osten der Stadt. Dann aber geschah, was seitdem Stadtplaner bewusst in anderen Gegenden zu wiederholen versuchen: nach den Hausbesetzern kamen Künstler und andere Kulturschaffende, die „urbanen Pioniere“, die für die Wiederaufwertung heruntergekommener Stadtviertel unverzichtbar sind. Bald prägten sie und ihre Cafés, Galerien und Geschäfte das Viertel. Aber wie in der New Yorker Lower East Side oder Berlin-Mitte war auch das nur ein Zwischenschritt, denn mittlerweile hat die Werbe- und Kulturindustrie sich hier niedergelassen und auch immer mehr Angestellte aus der City nutzen die Nähe zu ihrem Arbeitsplatz, während die Boheme weiter nach Nordosten gezogen ist. Die Rückeroberung der Innenstadt von den Unterschichten ist in Shoreditch beinahe abgeschlossen. Überall wird gebaut, die Mietpreise haben sich teilweise mehr als verdoppelt. „Das war eine üble Gegend, aber mittlerweile kommen doch die ganzen Leute aus der City hierher!“ Ben ist 19 Jahre alt und hier aufgewachsen, er lebt in zusammen mit seinen Eltern in einer kleinen Wohnung in dem Block. „Vor 10 Jahren hast du hier keine Polizei gesehen, das hat die einen Scheiß interessiert! Aber jetzt, Mann! Polizei und Kameras überall!“ Der Junge ist froh über die Gelegenheit, seinen Unmut loszuwerden. „Jetzt will ich bei meinen Eltern ausziehen, und ich kann mir hier keine Wohnung leisten. Also eigentlich sagen die zu mir: ok, du bist in einem Dreckloch groß geworden. Jetzt wird es eine nette Gegend, und du musst woanders hin.“ Ben grinst schief: „Und? Schreib ich deshalb einen Brief an den Premierminister?“ Der Austausch der Wohnbevölkerung ist mittlerweile weit fortgeschritten, auch zwischen East Road und Pitfield Street, wo nun Kameras die Bilder von den Straßen in die heimischen Wohnzimmer übertragen. Mitten zwischen den Bewohnern dieser vier Straßen läuft eine tiefe Kluft: die einen Gewinner der Modernisierung, oft haben sie ihre Wohnung gekauft, die anderen Verlierer, abgehängt, nicht gefragt. Während der Interviews fragen die Menschen immer wieder, was denn eigentlich ihre Nachbarn sagen – starke nachbarschaftliche Verbundenheit gibt es hier tatsächlich nicht. Shoreditch Trust will hier neues Gemeinschaftsgefühl mit einem Breitband-Computernetzwerk organisieren, während die Alkoholiker, Dealer und Obdachlosen unter Dauerüberwachung gestellt werden.
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