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„Heute Abend im Fernsehen: Alles."

Videoüberwachung neuer Qualität: in London sollen Bewohner ihr Viertel selbst beobachten.
(WOZ April 2006)

James Morris ist stolz: „Ehrlich gesagt hat mich dieses Interesse selbst überrascht!“ Seit im Januar die Pläne von Shoreditch Trust, einem Londoner Wohlfahrtsverband, bekannt wurden, kann sich der Vorstandsvorsitzende der Anfragen von Journalisten und Stadtpolitikern kaum erwehren. Sogar aus dem Ausland kommen interessierte Anrufe – kein Wunder, denn was Morris plant, ist weltweit einzigartig: bald sollen bis zu 20.000 Menschen Zugang zu den Aufnahmen von Überwachungskameras erhalten und von ihren heimischen Fernsehgeräten und Computerbildschirmen aus ihre Nachbarschaft beobachten.
„Das East End war dafür bekannt, dass die Menschen hier aufeinander aufgepasst haben“, glaubt Morris. „Heute sind die Menschen so beschäftigt mit ihrem Berufsleben, dass es einfach weniger Gemeinschaftsgefühl gibt. Und wir bringen das zurück, mit Hilfe moderner Technik.“ Die selbstgestellte Aufgabe des gemeinnützigen Vereins ist, Shoreditch wiederaufzuwerten, einen Teil des Londoner East End, geprägt von Arbeitslosigkeit, Verarmung und Kriminalität, gleichzeitig aber auch eine attraktive Gegend in unmittelbarer Nähe des innerstädtischen Bankenviertels. Der Etat von Shoreditch Trust ist dementsprechend beeindruckend: über 60 Millionen Pfund (etwa 136 Millionen Franken) hat der Verein bis zum Jahr 2010 zur Verfügung, bezahlt vom britischen Staat und der Regionalförderung der Europäischen Union.
„Es geht darum, die Leute wieder zusammenzubringen!“ Deshalb bietet der Verein nun einen lokales Fernsehprogramm namens Shoreditch Digital Bridge (SDB) an. „Heute Abend kommt im Fernsehen alles!“, lautet der Werbespruch für dieses Angebot, und tatsächlich kommt Morris aus dem Aufzählen der verschiedenen Angebote kaum heraus: „Schüler können mit ihren Lehrern kommunizieren und Hausaufgabengruppen bilden; die Eltern können feststellen, ob ihre Kinder tatsächlich in der Schule sind; man kann seine Sozialleistungen berechnen lassen; ärztliche Beratung; selbstgedrehte Filme ...“, das alles für knapp 4 Pfund im Monat (etwa 9 Franken). Während der jetzt laufenden Testphase können zunächst nur 1.000 Haushalte dieses Angebot nutzen, aber schon bald will SDB expandieren und im ganzen Bezirk zu sehen sein. Es gibt bereits Anfragen aus anderen englischen Städten. Shoreditch TV, wie das Programm getauft wurde, besteht aus einem „Gesundheitskanal“, einem „Geldkanal“ und einem „Kriminalitätskanal“, in wenigen Wochen wird noch ein „Erziehungskanal“ dazukommen. Erklärtes Ziel des Crime Channels ist, die Zusammenarbeit zwischen Bürgern und Polizei zu verbessern. Neben allgemeinen Ratschlägen und Informationen stehen die Zuschauern Echtzeitübertragungen von elf Kameras in ihrer Gegend zur Verfügung. Sie sind aufgefordert, Verdächtiges sofort der Polizei zu melden. Was für Delikte denn so bekämpft werden sollen? Morris bleibt vage: „Drogenhandel, potentielle Überfälle und so was...“ Ein weiteres Angebot im Crime Channel zeigt die Bilder von Anwohnern, die in der Vergangenheit auffällig und deshalb mit Verhaltenauflagen belegt wurden. “Naming and shaming“ nennt sich diese Strategie, die in den letzten Jahren in Großbritannien immer beliebter wird. „Wir sind davon überzeugt, dass sie das nicht zum Voyeurismus benutzen werden“, versichert Dan Hodges, Pressesprecher von Shoreditch Digital Bridge. Überhaupt gehe es auch um das subjektiv größere Sicherheitsgefühl.
Auch wenn ein großer öffentlicher Aufschrei bisher ausgeblieben ist, manche in England sind entsetzt über dieses Vorhaben. Etwa William McMahon, Direktor der Crime and Society Foundation, ein unabhängiges Forschungsinstitut, das sich mit Kriminalität und ihren Ursachen beschäftigt. „Durch dieses Projekt wird das Strafrechts in den Alltag ausgedehnt. Warum sollen Anwohner etwas tun, was Aufgabe der Polizei ist?“ Und Andrew Mackay von der Bürgerinitiative ASBO Concern: „Wir befürchten unter anderem, Selbstjustiz, wenn auf den Bildschirmen zum Beispiel Bettler zu sehen sind. Dieses Projekt ist geradezu eine Aufforderung, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen.“ Shoreditch Trust betont dagegen, die Idee stamme von den Bewohnern selbst. Man komme nur einem Bedürfnis der Menschen selbst nach. „Natürlich geht es auch um Neugier“, gibt Morris zu, „andererseits ist das für die Menschen eine Möglichkeit, sich bei der Kriminalitätsbekämpfung einzubringen!“
Nirgendwo ist Videoüberwachung so alltäglich geworden wie in Großbritannien. CCTV, Closed Circuit Television, wie der englische Ausdruck lautet, ist überall. Ein Akademiker schätzte kürzlich, dass der durchschnittliche britische Bürger jeden Tag von 300 Kameras gefilmt wird, die zu etwa 30 unterschiedlichen Netzwerken gehören. Im Zentrum steht nicht, wie in George Orwells berühmten Roman, der eine alles beherrschende Große Bruder, sondern viele verschiedene Überwacher, auf deren Informationen sich der britische Staat allerdings im Zuge des Kampfs gegen den Terror zunehmend die Zugriffsrechte sichert.
Haberdasher EstatesUnter Experten sind die Kameras als Mittel der Kriminalitätsbekämpfung umstritten. Der englische Kriminologe Martin Gill von der Universität Sheffield hat kürzlich die verschiedenen Studien ausgewertet. Ihn beeindruckt die Idee, Anwohnern Zugang zu den Überwachungskameras zu geben, nicht. „Sie werden CCTV einsetzen, aber ziemlich bald feststellen, das es weniger nützt, als sie erwartet haben“, meint er lakonisch. Seine Untersuchungen haben ihn zu der Ansicht gebracht, dass durch Videoüberwachung Straftaten vor allem verlagert werden. „Wenn wir mit Straftätern sprechen, sagen die: ok, es erhöht das Risiko, aber dieses Risiko lässt sich leicht umgehen.“ CCTV-Befürworter halten dem entgegen, die Kameras erhöhten das subjektive Sicherheitsgefühl, sie erleichterten die Menschen von ihrer Angst. Andrew Mackay lässt auch dieses Argument nicht gelten: „Nirgendwo gibt es soviel Videoüberwachung wie in unserem Land“, sagt er, „und fühlen sich die Leute deshalb sicherer? Offenbar nicht!“
Protest gegen die Überwachung des Alltags gibt es in Großbritannien kaum, seit mit Hilfe von Videoaufzeichnungen einige spektakuläre Verbrechen aufgeklärt werden konnten, höchstens ein diffuses Unwohlsein. Wer nichts zu verbergen hat, so die öffentliche Meinung, muss sich an CCTV nicht stören. Datenschutz ist in Großbritannien kein Thema, und dementsprechend einflusslos sind die offiziellen Stellen, die eigentlich die Privatsphäre der Bürger schützen sollen. Jonathan Banford, der stellvertretender Datenschutzbeauftragte Englands, bekennt etwas zögernd, dass er von dem Videonetzwerk im East End nur aus der Presse erfahren hat. Tätig werden kann er nur, wenn Betroffene Klage erheben, was so gut wie nie geschieht.

Im Zentrum der Überwachung steht kein Großer Bruder, sondern viele verschiedene Datensammler.

Das jetzt anlaufende Projekt in Shoreditch allerdings hebt die Überwachung auf eine neue Ebene: eine Nachbarschaft überwacht sich selbst. Verdächtig und daher im Fokus der Kameras ist jeder. „Er wird gesehen, aber er sieht nicht; er ist das Objekt von Information, aber niemals das Subjekt in einer Kommunikation“ – so beschrieb der französische Philosoph Michel Foucault die Funktionsweise dessen, was er Panoptikum nannte. In der panoptischen Anordnung von Architektur und Beobachtungsgeräten wähnt sich der Gefangene ständig unter Beobachtung, bis er schließlich verinnerlicht, was von ihm verlangt wird. Geboren wurde das Panoptikum lange vor Foucaults Zeit: schon der Moralphilosoph Jeremy Bentham und noch vor diesem der Universalgelehrte Wilhelm Gottfried Leibnitz haben es in den Gefängnissen und Arbeitshäusern des 17. Jahrhunderts erkannt. Keinen Winkel, keine Ecke darf im Panoptikum Schutz vor der Beobachtung bieten; was die Sicht versperrt, wird entfernt. Was so entsteht, nennt Foucault „einen segmentierten, bewegungslosen, gefrorenen Raum“.
Dagegen wirken die vier Straßen um die Haberdasher Estates geradezu harmlos. Ein Hochhaus, daneben ein langgestrecktes vierstöckiges Gebäude mit Innenhof und Garagen, hässlich und heruntergekommen wie der britische soziale Wohnungsbau aussieht, ein paar renovierte Häuser und kleine Läden dazwischen. Manche Bewohner pflegen ihre Blumenkästen, andere wechseln ein paar Worte, wenn sie sich auf dem Gang oder der Straße begegnen. Es ist ein ruhiger Nachmittag, nur später am Abend wird es etwas lauter werden, wenn sich die Betrunkenen aus den Kneipen auf der Hauptstraße auf den Nachhausweg machen. Unten bei den Garagen langweilen sich ein paar Kinde, misstrauisch schauen sie dem Fremden nach. Ob sie von den Kameras gehört haben? Was für Kameras, kommt die Gegenfrage. „Ja, davon habe ich gehört“, meint ein alter Mann, in dessen freundlichem Lächeln einige Zähne fehlen, „interessiert mich aber nicht. Ich seh sowieso lieber Fußball.“ Selbst die Befürworter in dem Wohnblock bezweifeln, dass sie die Kameras langfristig nutzen werden. „Es geht ja mehr um Abschreckung“, meint John, der kürzlich seine Wohnung hier gekauft hat. „Damit diese Leute sich nicht asozial verhalten, weil sie beobachtet werden. Aber werde ich wirklich stundenlang die Garagen beobachten? Wohl kaum.“
Werbebroschüre von Digital Bridge „Das ist ne gute Sache“, meint dagegen Lisa. Findet sie denn nicht, dass ihr Privatleben durch die Maßnahme eingeschränkt wird? Sie lacht: „Ich kümmere mich um mich und meine Familie, ich gehe arbeiten und ansonsten bleibe ich zuhause. Wer soll das interessant finden?“ An einer Einfahrt hängt ein Plakat, eine Werbung für Shoreditch Digital Bridge. Eine junge hübsche Frau ist darauf abgebildet, der Text: „Hier ist eine kreative Gegend – werde ein Teil davon!“ Als kreativ gilt Shoreditch allerdings erst seit in den späten 90er Jahren. Eingeklemmt zwischen den südasiatisch geprägten Elendsquartieren um Whitechapel und dem Bankenviertel Londons, der City, wo an der Börse täglich Milliarden gehandelt werden, war Shoreditch lange Zeit die letzte Bastion der weißen Arbeiterklasse im East End, die sich sowohl von den Einwandern aus dem Commonwealth als auch den Kindern aus der Mittelschicht abgrenzte, die auf Suche nach billigem Wohnraum hierher kamen. Lange hatte die faschistische National Front hier ihre besten Wahlergebnisse im eigentlich sozialdemokratisch geprägten Osten der Stadt.
Dann aber geschah, was seitdem Stadtplaner bewusst in anderen Gegenden zu wiederholen versuchen: nach den Hausbesetzern kamen Künstler und andere Kulturschaffende, die „urbanen Pioniere“, die für die Wiederaufwertung heruntergekommener Stadtviertel unverzichtbar sind. Bald prägten sie und ihre Cafés, Galerien und Geschäfte das Viertel. Aber wie in der New Yorker Lower East Side oder Berlin-Mitte war auch das nur ein Zwischenschritt, denn mittlerweile hat die Werbe- und Kulturindustrie sich hier niedergelassen und auch immer mehr Angestellte aus der City nutzen die Nähe zu ihrem Arbeitsplatz, während die Boheme weiter nach Nordosten gezogen ist.
Die Rückeroberung der Innenstadt von den Unterschichten ist in Shoreditch beinahe abgeschlossen. Überall wird gebaut, die Mietpreise haben sich teilweise mehr als verdoppelt. „Das war eine üble Gegend, aber mittlerweile kommen doch die ganzen Leute aus der City hierher!“ Ben ist 19 Jahre alt und hier aufgewachsen, er lebt in zusammen mit seinen Eltern in einer kleinen Wohnung in dem Block. „Vor 10 Jahren hast du hier keine Polizei gesehen, das hat die einen Scheiß interessiert! Aber jetzt, Mann! Polizei und Kameras überall!“ Der Junge ist froh über die Gelegenheit, seinen Unmut loszuwerden. „Jetzt will ich bei meinen Eltern ausziehen, und ich kann mir hier keine Wohnung leisten. Also eigentlich sagen die zu mir: ok, du bist in einem Dreckloch groß geworden. Jetzt wird es eine nette Gegend, und du musst woanders hin.“ Ben grinst schief: „Und? Schreib ich deshalb einen Brief an den Premierminister?“
Der Austausch der Wohnbevölkerung ist mittlerweile weit fortgeschritten, auch zwischen East Road und Pitfield Street, wo nun Kameras die Bilder von den Straßen in die heimischen Wohnzimmer übertragen. Mitten zwischen den Bewohnern dieser vier Straßen läuft eine tiefe Kluft: die einen Gewinner der Modernisierung, oft haben sie ihre Wohnung gekauft, die anderen Verlierer, abgehängt, nicht gefragt. Während der Interviews fragen die Menschen immer wieder, was denn eigentlich ihre Nachbarn sagen – starke nachbarschaftliche Verbundenheit gibt es hier tatsächlich nicht. Shoreditch Trust will hier neues Gemeinschaftsgefühl mit einem Breitband-Computernetzwerk organisieren, während die Alkoholiker, Dealer und Obdachlosen unter Dauerüberwachung gestellt werden.