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Wie kranke Gesellschaften gesünder werden
Über Richard Wilkinsons The Impact of Inequality - How to Make Sick Societies Healthier
(JUNGE WELT, 2. November 2006)
"Seelische Störungen in der Arbeitswelt nehmen zu!" Die Deutsche Presseagentur (DPA) bestätigte im Oktober erneut den Jahrzehnte alten Trend. Jeder zwölfte Fehltag in Deutschland sei mittlerweile auf psychische Leiden zurückzuführen, zitierte die Agentur Karl Kuhn von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Seit Anfang der 90er Jahre hat sich dieser Anteil mehr als verdoppelt. Besonders erschreckend ist die Entwicklung bei weiblichen Mitarbeitern, die am stärksten gefährdeten Berufsgruppen sind Krankenpflegehelfer, Telefonisten, Sozialarbeiter und Ungelernte. Nicht immer ist der Zusammenhang zwischen Arbeit, Status und Gesundheit so unabweisbar. Seit fast 30 Jahren erforscht Richard Wilkinson, Professor für Epidemiologie an der englischen Universität in Nottingham,, wie die soziale Position das körperliche und seelische Wohlergehen beeinflusst. Seine Ergebnisse müssen Gesundheitspolitiker zu denken geben.
In beinah allen westlichen Länder wird gerade oder wurde vor kurzem die Krankenversorgung umstrukturiert. Immer handelt es sich um einen Angriff auf die Umverteilungsfunktion dieser Systeme, und Gesundheitsrisiken werden zur Privatsache gemacht. Schon heute müssen manche Raucher in Deutschland höhere Krankenkassenbeiträge zahlen, denn wer seinen Körper schädigt, so die Logik, soll für spätere „Folgekrankheiten“ aufkommen. Für Wilkinson ist dieses vermeintliche Verursacherprinzip nicht nur zynisch, sondern auch schlicht falsch. Mit seiner sozialen Psychosomatik beweist er, dass es vor allem gesellschaftliche Einflussgrößen sind, die über Krankheiten entscheiden. Aber nicht nur das: am meisten leiden die Menschen unter – Ungleichheit.
Vor zwei Jahren erschien in den USA und Großbritannien sein Buch “The Impact of Inequality”, zu deutsch „Die Wirkung der Ungleichheit“. Seitdem haben Wilkinsons Thesen einigen Staub aufgewirbelt und die politische Debatte im englischsprachigen Raum wieder geöffnet. Er macht deutlich, dass Gleichheit selbst die Lebensqualität verbessert. Sie ist keine vermittelnde Variable in der Lebensqualität, die zu einem anderen Zweck dient, wie die sogenannte „neomaterialistische Schule“ glaubt. Menschen in egalitäreren Gesellschaften leiden weniger an Krankheiten, sie leben nicht nur länger, sondern auch besser.
Es geht dabei wohlgemerkt nicht darum, wie viele Arme es absolut gibt, sondern wie scharf der relative Unterschied zwischen arm und reich ist. Mit diesem Ansatz kann Wilkinson einige verblüffende Phänomene erklären. Warum übertraf die Lebenserwartung in Osteuropa bis in die 60er Jahre die im Westen, um danach weit zurückzufallen? Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf im indischen Bundsstaat Kerala beträgt einen Bruchteil des amerikanischen, der Lebensstandard ist, an gängigen Kriterien gemessen, weit niedriger – warum leben die Menschen dort dennoch nur knapp vier Jahre weniger als die US-Amerikaner? Wilkinsons Antwort: Ungleichheit macht krank. Reiche Weiße in den USA leben bis zu 16 Jahre länger als arme Schwarze, und das, obwohl nirgendwo sonst soviel Geld pro Kopf für medizinische Behandlungen ausgegeben wird. Zugespitzt formuliert er, es sei unter Umständen gesünder, in einer egalitären Gesellschaft weniger zu haben als in einer Reichen viel.
Die biologischen Gründe dafür sind denkbar einfach. Mit einer Synthese aus zahlreichen internationalen Studien zeigt Wilkinson, welche statistische Größen die Gesundheit am stärksten beeinflussen: niedriger sozialer Status, wenig oder unbefriedigende soziale Beziehungen und das Geburtsgewicht. Selbst der letzte Faktor hängt eindeutig mit der Schicht zusammen, in die die Kinder hineingeboren werden. Gesundheitsforscher sprechen vom historischen „epidemiologischen Übergang“ etwa seit Mitte des 18. Jahrhunderts. Wegen des medizinischen Fortschritts und besserer Versorgung (vor allem mit Lebensmitteln) sterben seit dem immer weniger Menschen an Infektionskrankheiten. Sie leben länger, die häufigste Todesursache werden degenerativen Krankheiten wie Krebs oder kardiovaskulären Leiden. Aber auch nach diesem Übergang treffen sie zuerst die Menschen in den Unterschichten, weil sie, körperlich vermittelt durch den Cortisol Hormonhaushalt, mehr Stress ausgesetzt sind. Deutlich wird das besonders beim Blutgerinnungsfaktor. Für Wilkinson ist es deshalb ein Fehler der Linken, sich nur mit der medizinischen Versorgung zu beschäftigen. „Sie ist nicht wirkungslos“, schreibt er, „nur ist ihre Wirkung kleiner als die sozioökonomischen Faktoren, die ursprünglich die Anfälligkeit für Krankheiten bedingen.“ Dass der Reichtum der Gesellschaften nicht eine entsprechend bessere Gesundheit produziert, nennt er „das soziale Versagen der Moderne“.
In den vergangenen Jahren haben vieler Gesellschaftswissenschaftler, im Zuge des sogenannten cultural turns, die Frage in den Mittelpunkt gerückt, wie Menschen ihrem Leben Sinn verleihen. Als Kulturproduzenten „verhandeln“ sie die Konventionen, die ihnen abverlangt werden; sie deuten die materiellen Bedingungen, denen sie unterworfen sind. Besonders interessiert sie die Verstehens- und Interpretationsleistungen in den Unterschichten. Manche Akademiker wollten so die kreative Rolle der vermeintlich „einfachen Menschen“ würdigen, anderen war es eigentlich um eine bessere Konsumentenforschung zu tun. Wilkinson und andere medizinische Soziologen stießen auf ein vergleichbares Phänomen, das sogenannte Hispanics – Paradox. Die Einwanderer aus Lateinamerika in den USA leben häufig in elenderen Verhältnissen als Schwarze, aber die Ungleichheit schädigt ihre Gesundheit weniger. Das liegt daran, dass ihre Bezugsgrößen andere sind: noch vergleichen sie sich tendenziell eher mit ihren Landsleuten in der Heimat als mit Millionären in den USA! Wilkinson zeigt aber auch en passant, dass obwohl Kultur etwas von der Wirkung der Ungleichheit abfangen kann, sie mittelfristig in allen Klassengesellschaften die gleiche fatale Rolle spielt.
Der Autor baut ziemlich holzschnittartig auf Statistiken und ist alles andere als Marxist. Als solchen hätte ihn weniger überrascht, dass auch relative Ausbeutung die Gesundheit der Arbeitenden untergräbt. Dennoch sind seine empirischen Hinweise wertvoll, um die aktuelle Gesundheitspolitik besser zu verstehen. Der „epidemiologische Durchgang“ war (auch) das Ergebnis einer Klassenkonstellation, in der ein großer Bevölkerungsanteil gesund und damit produktiv gehalten werden musste! Heute gibt es einen weltweiten Überschuss an Arbeitsbevölkerung. Ihre Gesundheit spielt für die Verwertung zunächst keine Rolle – weshalb sich mancherorts die absolute Armut wieder stärker bemerkbar macht. In den Ländern, wo es Reichtümer, produktives Proletariat und überflüssige Arme gibt, klafft die Schere am weitesten auf und birgt Konfliktpotenzial.
Scharf grenzt sich der Autor vom Begriff der „Chancengleichheit“ ab: „Oft wird behauptet, wir sollten eher sie als Gleichheit an sich anstreben. Aber das würde nichts erträglicher machen. Es entspricht der Vorstellung, die negativen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit ließen sich beseitigen, während die Arbeitslosenrate gleich bleibt, einfach dadurch, dass manche die Jobs der andern haben können.“ Sein Fazit: wer Gesellschaften gesünder machen will, muss ihren Reichtum umverteilen. Diese Forderung ist keine revolutionäre, aber sie trifft den Liberalismus dort, wo er behauptet, „das größte Glück der größten Zahl“ (Jeremy Bentham) zu verwirklichen.
Richard Wilkinson (2005) The Impact of Inequality: How to make sick societies healtier. London / New York: Routledge. Zu bestellen beispielsweise bei www.missing-link.de. Eine deutsche Übersetzung ist nicht in Vorbereitung.
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