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Das große Missverständnis "Und? Wie war’s?" Schön war es natürlich in Sri Lanka, in Brasilien und auf Mallorca. Mindestens eine Reise im Jahr gilt den Deutschen mittlerweile als grundlegendes Menschenrecht. Münsteraner, Düsseldorfer und Leipziger kämpfen um die besten Plätze am Strand von Goa und die Sitze in den Straßencafés Roms. Ihre Motive, eben das zu tun – "Erholung", "Abwechslung", "Abenteuer" – scheinen nur bei oberflächlicher Betrachtung banal; in Wirklichkeit sind sie auf komplizierte Weise verwoben und verworren. Reisen ist weniger eine Praxis als ein Geisteszustand und dem "touristischen Blick" deshalb nur mit einer Phänomenologie beizukommen – einer Theorie, die nicht von den "exotischen Orten" und Sehenswürdigkeiten ausgeht, sondern den Wahrnehmungsmustern ihrer Besucher. Eine reichhaltige Materialsammlung für eine solche Phänomenologie liefert "Fenster zur Parallelwelt", eine Sammlung von 23 Kurzgeschichten und 100 Fotos "aus aller Welt". Der Herausgeberkreis aus dem Freiburger "Informationszentrum Dritte Welt" nennt sich, reichlich zweideutig, "Fernweh". Ihre Überzeugung: das, was irritiert, nicht ins Bild passt, was stört auf der Reise, genau das lohnt eine genauere Betrachtung. Dementsprechend haben sie Erlebnisberichte und Interviews ausgewählt.
So entstand eine gelungene Verbindung von literarischen Texten, Interviews und Bildern, die thematisch gegliedert sind und kenntnisreich eingeführt werden. Besondere Aufmerksamkeit widmen sie dem sogenannten, selbsternannten Alternativtouristen. Obwohl "Fernweh" feststellt, dass "die Einteilung in typische Backpacker- oder Abenteuertouristen einerseits und all inclusive- oder Ballermann-Reisende völlig unhaltbar ist", ist er eben darin typisch, dass er seine Praxis für untypisch hält. Die Suche nach Distinktionsgewinnen treibt ihn immer tiefer in den Dschungel und höher in unzugängliche Bergregionen. Dennoch bewegt er sich innerhalb einer Infrastruktur, die exakt auf seine Bedürfnisse und Erwartungen zugeschnitten ist. Diese „Reiseblase“ oder travel bubble, wie die Herausgeber sie treffend nennen, wäre auch gar nicht schlimm, würde ihre Existenz nicht, gegen alle Evidenz, hartnäckig geleugnet. "Touristen" sind immer die andere. Die Reiseblase beruht auf der Arbeitskraft auch von Migranten, die aber unsichtbar bleiben ("backstage"), sofern sie nicht ins Bild passen. In einem Interview erzählt ein albanischer Kellner, der in einem Restaurant auf Kreta arbeitet, eindringlich, wie ihm eine griechische Identität von den Gästen zwangsvermittelt wird – Reiseklischees widerstehen allen Aufklärungsversuchen. Die Autorinnen nehmen kein Blatt vor den Mund, aber sie denunzieren die Reisenden auch nicht. "Ein Ausbrechen aus den vorgegebenen Rollen ist schwierig", betonen sie – für beide Seiten. Ob eine Safari als neokoloniale Unternehmung erkannt oder weiblicher Sextourismus beschrieben wird, ihre Analyse bleibt behutsam und differenziert. Gesellschaftstheorie und künstlerische Impressionen ergänzen und stützen sich“ gegenseitig, ohne zum Theoriebrei verrührt zu werden. "Fliehkraft" und "Fenster zur Parallelwelt" verfremden den Blick auf Tourismus. Schließlich liegt er uns so nahe, dass wir ihn gar nicht mehr wahrnehmen. Als massenhaft verbreitete Praxis ist Tourismus überraschend neu, eine Ausdruck des zwiespältigen Erfolgs der Arbeiterbewegungen im Westen. Im entwickelten Kapitalismus wird nicht nur die Arbeit fortwährend verdichtet und maschinell durchdrungen, sondern auch die Freizeit. Der Stand der Reproduktionskräfte lässt sich ablesen an der Tourismusindustrie – laut Terkessidis und Holert demnächst der größte Wirtschaftssektor überhaupt.
Tom Holert / Mark Terkessidis (2006) Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – Von Migranten und Touristen. Köln: Kiwi. Backes / Magg / Schülein (Hg) (2006) Fenster zur Parallelwelt: Reisebilder und Fernwehgeschichten. Freiburg (Breisgau): Informationszentrum Dritte Welt.
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