|
"Sorry, I think I am dying and I would need help" Die Handlung macht aber den neuen Roman der österreichischen Autorin Marlene Streeruwitz kaum aus. Eindrücklicher als die Erlebnisse Selmas ist die schonungslose Analyse ihrer Lage. Ihr Gedankenfluss wird durch Punkte gleichsam zerhackt, kaum einen ganzen Satz bringt sie zustande. Die Zeichensetzung entspricht dem Mühsal, das Selmas Denken immer wieder unterbricht und stocken lässt, während sie sich weiter schleppt. Weil dieser Frau, tief in bittere Selbstbetrachtungen versunken, nichts leicht fällt, werden ihre kleinsten Regungen wie unter einem Mikroskop beobachtbar. Eine "törichte Frau" habe sie darstellen wollen, sagte Marlene Streeruwitz in einem Interview, eine, die sich von Illusion erst befreien muss. Die Rezensenten dagegen vermissen in ihrem Werk alles Leichte, den Humor, um so viel staubtrockenes Elend herunterzuschlucken. In der "Süddeutschen" hieß es gar, die Heldin weigere sich einfach, die Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen, und verdiene ihr Schicksal deshalb. Solcher Mitleidlosigkeit entspricht die Wut der Kritiker auf Selmas Lamoryanz. Die reiht sich ein unter "Die Beladenen. Die Entlassenen. Die Verlassenen." (Streeruwitz). Über sie hat die Gesellschaft ein unanfechtbares Urteil gesprochen. Die eigentliche Pointe am literarischen Charakter aber, von der Autorin virtuos versprachlicht, entging den Kritikern: Niemand klagt Selma härter an als sie selbst! Diese Frau lässt sich eben nicht gehen, sondern reißt sich zusammen und so heftig am Riemen, dass es schmerzt. "Sie hatte jetzt keine Zeit für einen ausführlichen Anfall.", heißt es da, und: "Sie musste aufpassen. Sie durfte nicht verbittert werden." Zwanghaft betreibt sie das Selbstmanagement von Körper und Emotion, bis sie in ihrem Londoner Hotelzimmer in einem Lähmungsanfall zusammenbricht. Noch ihre Todesangst verpackt sie höflich in Schulenglisch: "Sorry I am dying and I would need some help." Streeruwitz' literarische Methode beruht darauf, der Selbstkontrolle und Selbstbetrachtung ihrer Figuren sprachlich zu folgen. Sie alle haben die gesellschaftlichen Zwänge tief verinnerlicht; ihre Lebensmaxime ist jenes Paradox, das Paul Watzlawick mit "Sei spontan!" formulierte. Ihr Versuch, sich zum positiven Denken zu zwingen, setzt ein Hamsterrad in Gang, das sich immer schneller zwischen Affekt und Verdrängung dreht. Wohlgemerkt, sie sind keine psychotischen Charaktere. Ihr zirkuläres Irresein entspricht dem gängigen Wahnsinn. Die Autorin betreibt keine psychologisierende Nabelschau, sondern Gesellschaftskritik. „Selma“ ist nicht zuletzt eine ältere Frau aus der Mittelschicht, deren höhere Bildung ihr kein Auskommen mehr verschafft. "Mein Projekt insgesamt ist die Frage, wie der Schmerz beschrieben werden kann, dass Schmerz nicht Stummheit bedeutet und damit Nicht-Vorhandensein und damit politische Bedeutungslosigkeit." Schließlich wirken Macht und Ökonomisierung im Neoliberalismus nicht nur gegen die Subjekte, sondern durch sie hindurch und mit ihnen. Es gibt kleine Hinweise, dass Selma sich am Ende ihrer Odyssee von der Scham befreit. In "Entfernung." sind einige Schwierigkeiten, das individuelle Schicksal in Protest zu wenden, literarisch meisterhaft eingefangen. Marlene Streeruwitz (2006) Entfernung. Frankfurt am Main: Fischer-Verlag p>
|