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Die Stadt als Katastrophe
Mike Davis zeigt Ursachen und Folgen des weltweiten urbanen Wachstums.
"In Mexikos Kapitale gibt es Sex, Gewalt, Schmuggel und das billigste Essen der Welt." So leitet die Süddeutsche einen Beitrag zu ihrer aktuellen Serie über die neuen Riesenstädte. Megacities sind in. Politischen Strategen bereiten sie Sorgen: werden sich urbane Agglomerationen wie Mexiko-Stadt oder Delhi in Zukunft, wenn schon nicht planen, dann wenigstens regieren lassen? Kulturtheoretikern und Feuilletonisten dagegen liefern sie Material. Sex, Gewalt und billiges Essen also, wie angenehm klingt das, nach Spannung und Abenteuer und der gemütlichen Angstlust, die deutsche Leser empfinden dürfen beim Gedanken an die unüberschaubaren Elendsviertel in Afrika und Asien.
Mit solchem wohligen Schauern hat der amerikanische Universalsoziologe Mike Davis nichts zu schaffen, obwohl auch er sich mit seinem neuen Buch mit den Städten der Zukunft befasst. Dem Autor des wegweisenden "City of Quartz" (1990), einer Studie über Los Angeles, geht es in seinem neuen Buch um die globalen Dimension der Elendsviertel. Bekanntlich wohnt mittlerweile der größere Teil der Menschheit nicht mehr auf dem Land, sondern in Städten, ein wahrhaft epochaler Umbruch. Noch schneller als die Städte insgesamt aber wachsen die Favelas, die Gecekondus und Bidonvilles. Laut einer UN-Studie wohnen in ihnen bereits 32 Prozent aller Stadtbewohner weltweit – was etwa einer Milliarde Menschen entspricht –, weshalb Kofi Annan kürzlich von der "Urbanisierung der Armut" sprach. Slums werden drei Viertel des prognostizierten Bevölkerungswachstums aufnehmen. Die erwähnte Studie geht davon aus, dass sich die Zahl ihrer Bewohner in den kommenden dreißig Jahren verdoppeln könnte.
"Die Städte der Zukunft werden seltener aus Glas und Stahl gebaut, als aus unbehauenen Steinen, Stroh, wiederverwendetem Plastik, Zementblöcken und Holzabfällen", schreibt Mike Davis. Obwohl reich an empirischen Material ist "Planet der Slums"keine trockene quasistatistische Untersuchung, sondern eine geschickte Verbindung von Mikro- und Makroebene. Davis beschreibt eindringlich die Lebensbedingungen, unter denen die Slumbewohner ums Überleben kämpfen, die kaum glaubliche Enge, die fehlende Versorgung mit Wasser, Strom oder Verkehrsverbindungen, die Lage in statisch unsicheren und ungesunden Gebieten. „In Hongkong lebt eine Viertel Million Menschen in illegal errichteten Bauten auf Dächern oder den Belüftungsschächten im Inneren von Gebäuden. Die schlimmsten Bedingungen aber müssen die sogenannten Käfigmänner erdulden, (...) die ihre Schlafstätten mit einem Drahtgittern bedecken, um den Diebstahl ihrer Habseligkeiten zu verhindern.“ Schockierend liest sich, wie Wiedertäufersekten, die in den Slums Südamerikas und Afrikas massenhaften Zulauf haben, verzweifelten Eltern Argumente liefern, sich ihrer Kinder, die sie nicht mehr versorgen können, mit religiösen Argumenten zu entledigen.
Statt sich nun in Katastrophenszenarien zu ergehen, fragt Davis, wie es so weit kam, und ordnet den Prozess der Urbanisierung geschichtlich ein. Die Drittweltstädte wuchsen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur deshalb so langsam, erklärt er, weil die jeweiligen Machthaber die Freizügigkeit der ländlichen Armen begrenzten. Sowohl westliche Kolonialmächte als auch Maoisten verhinderten die massenhafte Migration in die Städte. Dahinter stand nicht zuletzt die Furcht vor möglicherweise unkontrollierbaren städtischen Unterschichten. Ab den 1950er Jahren aber fielen vielerorts die Schranken. Sofern sich "Push-" und "Pull-Faktoren" überhaupt sinnvoll auseinanderhalten lassen, war der wichtigste Antrieb die Verheerungen der ländlichen Regionen, die Enteignung der Bauern, Hungernöte und Bürgerkriege. Beschleunigt wurde diese Entwicklung durch die Politik von Weltbank und Weltwährungsreform mit ihren Strukturanpassungsprogrammen seit den späten 70er Jahren.
Sensationalismus und apokalyptische Neigungen sind Davis fremd, dennoch ist die Leseerfahrung stellenweise, als strecke man den Kopf aus einem Auto in voller Fahrt: Zuerst wird alles lauter und eindringlicher, um sich dann in ein betäubendes Rauschen zu verwandeln. Ist Karachi in den letzten zwanzig Jahren um das 50fache oder nur das 49fache gewachsen? Zu antworten, darauf käme es auch nicht mehr an, wäre borniert.
Scharf weist Davis die Mythen zurück, die heute bei den Entwicklungspolitikern so beliebt sind. Weder werden Minikredite das Problem lösen, noch taugen die Slumbewohner als unternehmerische Pioniere der Marktwirtschaft, wie es prototypisch der einflussreiche Wirtschaftswissenschaftler Hernando De Soto behauptet. "In den Entwicklungsländern besteht ein Großteil der wimmelnden Massen nicht aus legalen Proletariern, sondern aus extralegalen kleinen Unternehmern", argumentiert De Soto und will so begründen, warum neoliberale Reformen letztlich auch den Armen zugute kämen. Mit bitterem Hohn und sachlich fundiertem Entsetzen zeigt Davis, dass es sich bei den informellen Überlebensstrategien in den Slums in aller Regel um unproduktive Arbeit handelt, und bei den Einkünften aus ihr um "Subdivision", der immer weiteren Unterteilung knapper Ressourcen abseits von der Wertschöpfung.
Die historischen Vorläufer der wuchernden Elendsregionen sind dementsprechend nicht Manchester oder Chicago, wo im 19. Jahrhundert dem städtischen ein industrielles Wachstum entsprach, sondern das damalige Neapel mit seinem "andauernden massiven Überfluss an Arbeitskräften" und der daraus resultierenden brutalen Konkurrenz um informelle Beschäftigungsnischen. "Planet der Slums" ist ein schnell wirkendes Gegengift gegen jene mit Ekel vermischte Faszination über die Selbstorganisation des urbanen Elends, wie sie im Moment so häufig zu lesen ist. Stattdessen stellen sich dringende politischen Fragen: Wie soll eine Überflussbevölkerung im Marx’schen Sinn Macht entwickeln und ihre Interessen vertreten? Wie kann sie wenigstens ihr Überleben sichern?
Mike Davis (2007) Planet der Slums. Aus dem Amerikanischen von Ingrid Scherf. Berlin / Hamburg: Assoziation A.
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