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(Konkret, September 2008)

Das Nationale als Paradox?

Saskia Sassen sieht im globalen Wald die nationalen Bäume nicht.

 

Wissen Sie, wie viele Angestellte sogenannter privater Sicherheitsfirmen die US-Regierung im Irak bezahlt? Nein? Dann geht es Ihnen wie Jan Schakowsky, einer Abgeordneten im Repräsentantenhaus. "Wir wissen es nicht, und wir können es auch nicht herausfinden!", beschwerte sich die Politikerin in einem Interview letztes Jahr. Das Gebaren von Söldneragenturen wie Blackwater Worldwide im Irak beunruhigte damals die amerikanische Öffentlichkeit, die Demokraten im Kongress versuchten, die Kriegsführung der Regierung Bush anzugreifen – worauf das Außenministerium sich schlicht weigerte, die entsprechenden Dokumente herauszugeben.
Die Exekutive beansprucht nach Belieben Geheimhaltung und lässt die Legislative, die sie zu kontrollieren versucht, auflaufen. Für Saskia Sassen sind solche Konstellationen emblematisch für die „heutige globale Epoche“. Dass sich die Regierungsmacht tendenziell von parlamentarischen Kontrollen und Beschränkungen befreit hat, sei Ergebnis dessen, was gemeinhin Globalisierung genannt wird.
Schon ein Jahr vor dem Blackwater-Skandal veröffentlichte Saskia Sassen "Territory – Authority – Rights"; nun ist eine deutsche Ausgabe mit dem Titel "Das Paradox des Nationalen“ erschienen. Darin will die amerikanische Soziologin ganz grundsätzlich klären, wie sich heute das Globale zum Nationalen verhält. Bisher sei die wissenschaftliche Debatte über die Globalisierung von einer verengten und irreführenden Fragestellung ausgegangen, indem sie den Aufstieg transnationaler Konzerne und mehr internationale Verflechtungen mit einem Machtverlust der Nationalstaaten gleichgesetzt habe. Aber die Macht des einen gehe nicht unbedingt auf Kosten des anderen, im Gegenteil. So erzeugen beispielsweise handlungsfähige, miteinander konkurrierende Nationalstaaten das Globale, indem sie Märkte errichten und kollektive oder bilaterale Diplomatie betreiben. Das scheinbare Paradox der nationalen Einhegung besteht darin, die Grundlage des weltweiten Verkehrs zu sein.
Sassen geht es also nicht um die beliebte Scheinfrage "Staat oder Welt(-markt)", sondern darum, wie beides heute ineinander greift. "Die entscheidende Frage ist nicht, ob der Staat globalen Kräften gegenübersteht und ob er dadurch geschwächt wird oder nicht. Die Fragestellung zielt auf die tiefgreifende Neuverteilung der Macht innerhalb des Staates." Die sogenannte Deregulierung und Privatisierung von Bereichen, für die früher ausschließlich der Staat zuständig war, habe nicht alle Gewalten gleich geschwächt, sondern vor allem die Legislative. Heute setze nämlich die Regierung eigenmächtig Kommissionen für die Regulierung / Deregulierung dieser Bereiche – beispielsweise der Gesundheitssysteme – ein. Solche Kommissionen arbeiteten außerdem in der Regel nicht öffentlich. Weil sich schließlich die Politik auf den Weltmarkt "ausrichte", seien Behörden wie das Außenhandels- oder Finanzministerium heute sogar mächtiger als früher. Die Macht der Parlamente dagegen erstrecke sich auf einen schrumpfenden Bereiche von reinen "Inlandsaufgaben", und die Geheimpolitik kehrt im großen Stil zurück. Das amerikanische Beispiel stehe dabei für einen Trend in vielen Zentren des Weltsystems. Sassen nennt explizit Großbritannien, Italien, Malaysia und Argentinien, aber die Liste ließe sich mühelos verlängern.

Globale Klassen, entnationalisierte Bürger?

Die Darstellung dieser Machtverschiebung ist der beste Teil von "Das Paradox des Nationalen". Leider belässt es Saskia Sassen nicht dabei, sondern entdeckt im Umbruch gleich noch Chancen auf eine "postnationale Staatsbürgerschaft", die nicht mehr nach Geburtsrecht ausschließt, damit ein Schritt hin zu "globalen Rechten" sei. Ihre Argumentation: In der Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg hätten sich Potentiale entwickelt, die seit den 1980er Jahren die "zentripetale Kraft des Nationalstaats" erlahmen ließen. Das gelte für das Kapital, weil sich Unternehmen durch Handelschiedsverfahren und Offshore – Finanzmärkte den nationalen Rechtsprechungen entziehen könnten, aber auch für Teile der Bevölkerung. Sassen verweist beispielhaft darauf, dass mehrfache Staatsbürgerschaften immer üblicher werden.
So entstünde eine "stückwerkartige Geographie der souveränen Kontrolle". Wie einst im Feudalismus, als Herrschaft sich vornehmlich auf Personen statt auf Gebiete richtete, überlagerten sich heute wieder verschiedene Machtstrukturen; mehrere (nationale und internationale) Rechtssysteme regulieren das gleiche Territorium. Sassen behauptet schließlich allen Ernstes, mittlerweile seien "globale Klassen" entstanden. Gemeint sind international tätige Experten und Führungskräfte privater Unternehmen, aber auch Regierungsbeamte (!), Migranten im Niedriglohnbereich und schließlich politische Aktivisten. Selbst wenn deren Zugehörigkeiten mehr mit "Identitätserfahrungen" zu tun haben sollte, wie die Autorin einschränkt, Beispiele für das Wirken dieser "globalen Klassen" bleibt sie, kaum zufällig, schuldig.
Bekannt wurde Sassen Anfang der 90er Jahre, als sie die Rolle "globaler Städte" in der Weltwirtschaft untersuchte. Damals wies sie unter anderem nach, dass der weltweite Aktionsradius des Kapitals räumliche Zentralisation und Konzentration bedingt. Die Globalisierung wertet bestimmte Weltregionen auf, wo eine entsprechende technische, soziale und logistische Infrastruktur zur Verfügung steht: "Ortsgebundenheit" und "globale Reichweite" schließen sich nicht aus, sondern gehören notwendig zusammen.
Sassen, eine Stichwortgeberinnen der globalisierungskritischen Bewegung, entwickelte damit eine so nüchterne wie realistische Kritik, die nichts mit Klischees vom "vagabundierenden Kapital" gemein hat. Entsprechend hoch waren die Erwartungen an ihr neues Buch. Aber so materialreich und genau sie damals argumentierte, so wenig instruktiv tut sie es heute. Abgesehen davon, dass sie staatliche Strukturen untersucht, als mache es keinen Unterschied, welche Position die jeweilige Nation im Weltsystem inne hat – als spiele also das Außenhandelsministerium Italiens die gleiche Rolle wie das der USA – kann sie ihre Kernthese, auf die historische Phase der "internationalen Politik" sei nun eine "globale" gefolgt, trotz gewaltigem theoretischem Aufwand und 735 (teilweise quälend langatmigen) Seiten nicht plausibel machen. Letztlich scheint das Nationale, trotz ihrer Bemühungen, weniger paradox als vielmehr schrecklich folgerichtig.

Saskia Sassen: Das Paradox des Nationalen. Aus dem Englischen von Nikolaus Gramm. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

 

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