Home

Texte

Kommentar

Rezensionen

Radio

Schublade

Bilder

Links

 

Kontakt

 

 

 

 

 

Vom Poststrukturalismus zum Postmarxismus

In den letzten Jahren erlebt der Operaismus in der deutschen Linken eine gewisse Renaissance. Bekanntlich ist dessen Ausgangspunkt die Überzeugung, die Entwicklungsdynamik lasse sich nur aus der Subjektivität der Arbeiterklasse begreifen. Aber was ist eine solche Theorie wert, wenn der sichtbare Klassenkampf hierzulande so aussieht, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter "um ihren Arbeitsplatz kämpfen" und zu diesem Zweck Plastikwesten überziehen, die ihnen der örtlichen Gewerkschaftsfunktionär mitgebracht hat? Und was haben die Nachlassverwalter der Theorie heute noch anzubieten?
Als die marxistische Strömung in Italien entstand, war sie eine Reaktion auf die Integration der kommunistischen und sozialistischen Parteien in das parlamentarische System. Die Operaisten rückten statt dem Taktieren der Volksvertreter die Spontaneität und Subjektivität der Arbeiterinnen und Arbeiter in den Mittelpunkt ihrer Analysen und Interventionen. 1968 und 1977 inspirierte der Operaismus die Streiks und sozialen Bewegungen, mit dem revolutionären Aufbruch zerbrach dann aber der Diskussionszusammenhang. Nachdem die Streiks und militanten Aneignungsformen in Italien ab 1977 abflauten, wandte sich ein Teil der Intellektuellen poststrukturalistischen Theorien zu. Besonders attraktiv erschien ihnen der von Michel Foucaults geprägte Begriff der Biomacht.
Diese Verbindung beherrscht heute die linkakademische Debatte. Eben sie und den Jargon der Uneigentlichkeit unterzieht eine im Januar erschienene Anthologie mit dem Titel "Das Leben lebt nicht" einer scharfen Kritik. Für die Herausgeber ist sie nichts als "die ideologisierende Reflexionsform sich wandelnder kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse", schlimmstenfalls eine "linke postmoderne Affirmation der Biopolitik". In einem Beitrag wird die Entwicklung der von Foucault inspirierten Kritik zur akademischen Politikberatung nachgezeichnet, ein andere handelt von der Unmöglichkeit, "in poststrukturalistischer Manier den Antisemitismus zu begreifen“. Die Schwächen der beiden wohl einflussreichsten Werke politischer Philosophie der letzten Jahre, Giorgio Agambens "Homo Sacer" und "Empire" von Antonio Negri und Michael Hardt, werden überzeugend erklärt. Bei aller berechtigter Kritik wollen die Autorinnen herausfinden, was sich mit dem Poststrukturalismus vielleicht doch anstellen ließe. Der vielleicht stärkste und für die deutschen Zustände wichtigste Text ist ein Flugblatt mit dem Titel "Kein Fussbreit dem Postfaschismus!", das anlässlich eines öffentlichen Auftritts Peter Sloterdijks in Hamburg verteilt wurde. "Sloterdijk ist für das Feuilleton das, was Mike Krüger für die Zunft der Humoristen ist. Beide erfüllen die Vorgaben ihrer Sparte der Kulturindustrie so exakt, dass sie eine Peinlichkeit für den Betrieb als Ganzes sind" – dem ist nichts hinzufügen.
Der bekannteste ehemalige Operaist, Antonio Negri, schlägt bekanntlich als allerneustes theoretische Shibboleth den Begriff der "Multitude" vor. Wie vieles in "Empire" bleibt diese Idee vage: irgendwie gehören alle dazu, die das möchten. Der Sozialphilosoph Paolo Virno versucht nun, den Begriff in seiner "Grammatik der Multitude" zu präzisieren. Dazu untersucht er die europäische Ideengeschichte und entdeckt in der Multitude die unterdrückte Alternative zum "Volk". Das Volk sei an die Existenz des Staates gebunden, gleichzeitig Voraussetzung und Resultat einer gewaltsamen Homogenisierung zum Zweck der Verwertung. Heute aber, nach Ende des Fordismus, überschreite das kreative Potential der Multitude alle von Kapital und Staat gezogenen Grenzen. Als Kollektivität ist sie "die Seinsweise der Vielen als viele", eine Kollektivität, die nicht vereinheitlichen muss, um die Welt zu verändern. Im Gegensatz zu der schwärmerischen Rhetorik Negris betont Virno allerdings auch, dass es sich bei der Multitude um eine "ambivalente Seinsweise" handelt: nicht nur Unabhängigkeit und Kooperation, sondern auch "Opportunismus, Zynismus, soziale Angepasstheit, unermüdliche Selbstverleugnung, heitere Resignation" sollen für sie kennzeichnend sein. Gerade diese Entfremdung aber eröffne die Chance, dass die Produzenten die Verhältnisse endlich vorurteilslos begreifen und regeln.
In dem schmalen Band treten eine beeindruckende Menge von Theoretikern auf, offensiv bekennt Virno sich zum Ekkletizismus. Ideen von Hannah Arndt, Spinoza, Debord oder auch Arnold Gehlen und Carl Schmitt werden fast gewaltsam aus ihrem Zusammenhang gerissen. Vinos Versuch, die Multitude als Bezugspunkt für die Linke plausibel zu machen, muss als gescheitert gelten.
Ihr materialistischer Kern, wenn man so will, ist die unbewiesene Überzeugung, "die immaterielle Arbeit" sei zum Kern der Produktion geworden. Offensiv beerdigen einige Postoperaisten das Wertgesetz. Die Entwicklung der Maschinerie immer weiter steigende Produktivität hat angeblich Begriffe wie "abstrakte Arbeit" und "Wert" sinnlos gemacht. Stattdessen soll die Multitude alles mögliche in die Welt bringen, Wissen, Gefühle, Subjektivität, die weder messbar noch letztlich kontrollierbar seien. Dabei beziehen sich die Postoperaisten vorzugsweise auf das so genannte Maschinenfragment von Marx – das sie allerdings für ihre Zwecke umdeuten müssen. In diesem Manuskript antizipierte Marx, dass irgendwann Arbeit nur noch in der Beaufsichtigung und Kontrolle der Maschinen besteht und der berühmt-berüchtigte general intellect zur eigentlichen Produktivkraft wird. Ob dies allerdings möglich ist, wenn das kapitalistische Kommando weiterhin besteht, darüber findet sich in diesen Notizen nichts. Die Postoperaisten allerdings lösen das Problem durch ihre Behauptung, Staat und Kapital seien der eigentlichen Produktion heute nur noch äußerlich – eine wenigstens gewagte These."
"Man sollte besser davon ablassen, weiter über ‚Wissen’, ‚Kenntnisse’ und ‚Identität zu grübeln, schöne und leere Worte aneinander zu reihen und dabei Gefahr zu laufen, Lächerlichkeiten über die ‚immaterielle Arbeit’ zu produzieren!" So entnervt äußert sich Sergio Bologna über das publizistische Treiben der ehemaligen Genossen. Bologna, dessen neustes Buch „Die Zerstörung der Mittelschichten“ in diesem Frühjahr erscheint, war neben Negri einer der bekanntesten linken Theoretiker Italiens. Seiner Kritik ließe sich zustimmen, hätte ihn nicht sein Weg über die Universität zur Unternehmungsberatung geführt: das Buch erscheint bei einem kleinen österreichischen Verlag, der ansonsten Managementliteratur vertreibt, und dort ist es gut aufgehoben. Die Arbeiterklasse interessiert den Autor nicht mehr, stattdessen wendet er sich nun den Freiberuflern zu. In historischen Exkursen verwendet er einige Mühe darauf, nachzuweisen, dass diese auch nicht anfälliger für den Faschismus seien als andere. (Als Gegenbeispiel zu den Deutschen in den 30er Jahren dienen übrigens die Deutschen in den Alternativbewegung der 80er!)
Hier wird keine politische Theorie betrieben, sondern das Elend der absteigenden Mittelschichten verdeutlicht. Das liest sich durchaus lustig; die von der Krise Bedrohten werden zum Beispiel so beschrieben: 2junge Frauen und Männer, die Cappuccino trinkend vor ihrem drahtlos mit dem Internet verbundenen Laptop in den New Yorker Cafes sitzen, wo die arbeitslos Wissensarbeiter sich versammeln, damit beschäftigt, Lebensläufe zu verschicken, Internetseiten mit Arbeitsangeboten zu durchforsten, die Kreditzahlungen für das geleaste Haus oder Auto neu zu verhandeln und – zum ersten Mal in ihrem Leben- Beziehungen zu Leuten knüpfen, die sich in der selben Situation befinden2. Sollten die europäischen Freiberufler nicht bald zur Gegenwehr greifen, so Bolognas Einschätzung, stünde ihnen wegen der Globalisierung nicht weniger als die Zerstörung als Klasse bevor, sprich: der Abstieg ins Proletariat. Deshalb macht er sich auf die Suche nach 2Formen des Zusammenschlusses und des Schutzes der eigenen Rechte2 – wobei er gewerkschaftlichen Initiativen eine Absage erteilt, denn die immaterielle Arbeit erzeuge im Gegensatz zur industriellen keine „Kultur des Forderns.“ So hat denn Bolognas Intervention den Vorzug, endlich die linksradikale Rede über general intellect und die Wissensgesellschaft auf den Punkt gebracht zu haben: es geht darum, den Angestellten und selbständigen- scheinselbständigen Zuarbeitern der Kulturindustrie beizustehen.

Sergio Bologna (2006) Die Zerstörung der Mittelschichten: Thesen zur neuen Selbständigkeit. Wien / Graz: Nausner & Nausner.

Paolo Virno (2005) Grammatik der Multitude: Untersuchungen zu gegenwärtigen Lebensformen. Berlin: ID Verlag.

Die Röteln (Hg) (2006) „Das Leben lebt nicht“: Postmoderne Subjektivität und der Drang zur Biopolitik. Berlin: Verbrecher Verlag.

 

Mehr Rezensionen