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Als im Herbst vor zwei Jahren die Bochumer Opel-Arbeiterinnen und Arbeiter in Streik traten, hatten sie den Verstand verloren. Zehntausend verweigerten damals die Arbeit, gegen den Willen des Betriebsrates, von der Konzernleitung mit Entlassung bedroht und von Politikern und Pfarrer bedrängt, doch wieder Vernunft anzunehmen. Folgerichtig titelt eine deutsche Tageszeitung nach Ende des Ausstands mit "Im Kampf zwischen Herz und Hirn hat in Bochum nun die Vernunft gesiegt!" Die sechs Tage kurze, aber heftige Ablehnung dessen, was ökonomische Vernunft sein soll, weckte bei Linken hierzulande und im Ausland Hoffnungen auf einen Kampf mit Signalwirkung. Die von Jochen Gester und Willi Hajek herausgegebenen Berichten, Interviews und Analysen vermeiden allerdings jede Romantisierung oder Idealisierung. Auf den über 200 dichtgepackten Seiten wird auch deutlich, wie schwierig Gegenwehr heute ist.
In einem kurzen historischen Exkurs wird die Geschichte wilder Streiks in der Bundesrepublik dargestellt. Deutlich wird, dass es bis in die 70er Jahre eine lebendige Tradition von Arbeitskämpfen ohne die Gewerkschaften gab. Die Rolle der IG Metall wird – kaum überraschend für eine Veröffentlichung aus gewerkschaftsoppositionellen Kreisen – äußerst kritisch beleuchtet. Gewerkschaften spielten und spielen teilweise immer noch in der deutschen Großindustrie eine Rolle, die ihnen kaum in einem anderen Land zukommt. Von Opel berichtet Hajek: "Bei der Einstellung ging es gleich ins Betriebsratsbüro, um sich das Mitgliedsbuch der IG Metall abzuholen, manchmal auch gleich das Parteibuch der SPD mitzunehmen. Der Betriebsrat konnte auch Wohnungen vermitteln und hatte zumeist ein offenes Ohr für Verwandte und Freunde, die eine Stelle suchten oder den Arbeitsplatz wechseln wollten." In solchen, aus dem (Arbeits-)Leben gegriffenen Beschreibungen liegt die Stärke dieses Buchs. Abgesehen von der kenntnisreichen Analyse der Krise im Automobilsektor und der Kritik der Gewerkschaftsstrategie bietet es wertvolle Einblicke in die wirklichen Lebensverhältnisse der Opel-Arbeiterinnen.
Was General Motors 2004 an Einsparungen forderte, wurden von den Bochumer Arbeitern als Provokation begriffen. Sie reagierten, teils zögernd, ohne auf die Gewerkschaft zu warten. Sie versäumten aber, eine unabhängige Streikleitung zu gründen; letztlich wurde der Vertretungsanspruch der Gewerkschaft nicht praktisch kritisiert. Rückblickend gewannen sie durch den Streik vor allem eines: höhere Abfindungen. "Ich kam von der Pause", berichtet einer in einem Interview, "da kam raus: Abfindungen werden gezahlt. Enorme Abfindungen. ... Ja, und dann kam das Wochenende. Da haben sie sich wohl alle mal zu Hause hingesetzt und das durchgerechnet. 15 bis 17 Jahre bis zur Rente." Um der Mythenbildung vorzubeugen: dass die Arbeiter bei Opel nach sechs Tagen mehrheitlich dafür waren, die Arbeiter wieder aufzunehmen, war nicht Ergebnis eines Verrats ihrer Gewerkschaften. Jochen Gester: "Die Belegschaft hat damit auch ein Urteil darüber abgegeben, für wie belastbar sie in der konkreten Situation die Solidarität der Belegschaften hielt und was sie der Gewerkschaftsopposition zutraut."

Jochen Gester / Willi Hajek (2006) Sechs Tage der Selbstermächtigung. Der Streik bei Opel in Bochum Oktober 2004. Berlin: Die Buchmacherei.

 

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