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„Wild, kreativ, produktiv“

Die neue Hauptstadtliteratur erfindet sich ein utopisches Berlin. Das ist zwar ziemlich gruselig, taugt aber eben drum als Aushängeschild für die deutsche Herrschaft in Europa.

(KONKRET, September 2013)

 

"Am Abend seines fünfzigsten Geburtstags bat mein Freund Lothar seine Familie, ihm die Freiheit zu schenken." So beginnt Anna Katharina Hahns Kurzgeschichte "Aus weiter Ferne". Lothar, "ein leitender Angestellter" und wohnhaft in einer "wenig spektakulären süddeutschen Großstadt", flieht aber nicht weit "aus dem selbstgeschmiedeten Käfig" aus Beruf, Familie und Heimatstadt. Alles, wonach ihn verlangt, ist gelegentlich ein Kneipenabend, bei dem er den anderen Gästen weismachen darf, er sei ein Berliner. „Lothar sprach zu ihnen von den Paraden, an denen er teilgenommen hatte, riesigen Freiluftaufmärschen, die in Knutschereien auf Parkwiesen endeten … von der zarten Sechzehnjährigen, die ein rosa Axolotl in einer wassergefüllten Plastiktüte durch die Szenelokale schleppte, von der ungeheuren Stille der baumbestandenen Hinterhöfe … und seinen Wohnungsnachbarn: einem Stasioffizier und einer peruanischen Sängerin." Gierig schluckt die Zuhörerschaft seine erfundenen Anekdoten über den Asphaltdschungel.
Die schöne Geschichte über den Hochstapler Lothar ist enthalten in dem gerade erschienenen Sammelband Berlin bei Nacht. Klug hat die Herausgeberin Susanne Gretter den Abschnitt mit „Das wahre Berlin“ betitelt: Berlin, das ist die Summe der Phantasien, die sich an die Stadt an der Spree heften. Dieses phantasmagorische Berlin, um das es im folgenden gehen soll, steht als Chiffre für Nachtleben und Sex, Vielfalt und Nonkonformismus. Die (vermeintliche) Fülle in der Hauptstadt ist der Kontrapunkt zur (vermeintlichen) Öde in Backnang oder Halle oder Bielefeld. Sie ergänzen einander.
Mit Berlin bei Nacht, Die ersten Tage von Berlin und 3,543676 Berliner sind gerade drei Beispiele für die neue deutsche Hauptstadtliteratur auf den Markt gekommen. Sie enthalten viele Hinweise darauf, was das Berlinische an der Berliner Republik ist. An Nachtleben, Sex, Vielfalt und Nonkonformismus scheint es anderswo in Deutschland zu wenig zu geben. Aber warum ist das Nachtleben in diesem Berlin offenbar so schrecklich eintönig, formelhaft und formell? Weshalb ist Sex grundsätzlich möglichst unverbindlich bis hin zur gegenseitigen Abneigung der Sexualpartner? Warum wird die Vielfalt bloß besichtigt, auch und gerade von den Einheimischen? Nirgendwo gibt es mehr Berlin-Hochstapelei als vor Ort. Wie geht der Trick?

Die Anthologie Berlin bei Nacht steht in der Tradition der literarischen Reiseführer, die demnächst wohl mit dem letzten Bildungsbürger aussterben werden. Die „neusten“ Texte der „Szenegänger, Schauspieler und intimen Kenner“ – so vermarktet Suhrkamp das Buch – richten sich an junggebliebene Provinzflüchtlinge, Stadttouristen und Wochenendurlauber, die etwas erleben und sich darauf vorbereiten wollen.
In Berlin bei Nacht finden sich auch zwei, drei zart empfundene Geschichten, die davon handeln, wie in dieser Stadt etwas erfahren wurde oder etwas mit einem geschehen ist (oft davon, wie einem etwas weggenommen wurde). Die meisten Texte sind aber nur lapidar berichtete Streifzüge, langweilige Aneinanderreihungen von Orten, „ … Tresor … Berghain … Festsaal Kreuzberg … WMF … Watergate …“, oder auch, Gipfel der Schnöseligkeit, ein bestimmtes Café oder eine Buchhandlung, an denen der Erzähler in der Geschichte von David Wagner souverän vorbei spaziert. Die Autorinnen drehen eine Mühle von gastronomischen und Einzelhandelsangeboten immer weiter im Kreis und unten rieselt immer nur heraus: „War dabei und kenn mich aus!“ Die Kunst dabei besteht darin, Kunstgriffe zu finden, damit das nicht allzu peinlich wirkt. In den fiktionalen, oft surrealen Geschichten dagegen sind die wilden Sachen, die nachts passieren, offensichtlich ausgedacht. Regelmäßig wird Berlin in diesen Büchern als „Flickwerk“, „polyzentrisch“ oder „Patchwork nebeneinander existierender Szenen“ bezeichnet. Seine Vielfalt erlaubt, sich die Nacht „zusammenzubasteln“ („Taz“-Redakteur Dirk Knipphals): „Also nicht nur: nach den aktuellen hippen Orten in Nordneukölln suchen. Oder auch nicht nur: Berghain. Sondern: nach einer Buchpremiere in Charlottenburg noch auf ein Patramisandwich im Südblock am Kottbusser Tor vorbeigucken. Oder: Philharmonie und Berghain.“ Dieses Berlin bietet sich den Flaneuren dar ohne Gefahr oder Anstrengung. „Es ist das Nebeneinander, das zählt.“
Das Nebeneinander als das eigentlich Urbane prägt auch den Reportagenband 3,543676 Berliner von Alexander Krex. Der Journalist hat eine Menge Berlin-Bewohner angequatscht und ihre Erzählungen aufgeschrieben, ergänzt durch mehr oder weniger stimmungsvolle Situationsbeschreibungen. So entstanden kurze Porträts von Alkoholikern, Obdachlosen, Radiomoderatoren, Tresenkräften, Bundestagsabgeordneten und vielen anderen Berufen und Berufungen. Manche Details sind nicht uninteressant, aber sie fügen sich gerade nicht zu einem Panorama der Stadt (nicht einmal in dem Sinn, daß die wahllose Ansammlung der Personen die urbane „Rahmenlosigkeit“ ausdrücken könnte).
Die Verschiedenheit der Bevölkerung entspricht der Vielfalt der Vergnügungen. Mit repressiver urbaner Toleranz wird jedem sein Plätzchen in der Stadt zugewiesen, ob arm oder reich, schwul oder hetero, ausländisch oder deutsch, schlau oder dumm. Es ist typisch für diese Hauptstadtbücher, daß die Berliner einerseits ganz und gar unterschiedlich scheinen, andererseits unverbunden nebeneinander her leben. Sie sind Kulisse und werden aufgezählt.
Der amerikanische Soziologe Richard Sennett definiert Stadt im Gegensatz zum Dorf „als menschliche Ansiedlung, in der sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Fremde treffen“. In dieser Minimaldefinition steckt bereits, daß die Fremden, die in der Stadt aufeinander treffen, aneinander abprallen oder einander begegnen können. An historischen Beispielen zeigt Sennett, daß das Klassifizieren, Stigmatisieren und Ghettoisieren immer Teil der kapitalistischen (er sagt: modernen) Urbanität war. Sie folgen mehr oder weniger unmittelbar aus der „Anonymität des Stadtlebens“.
Aber Sicherheitsarchitektur, Repression und Ghettoisierung scheinen in diesem fiktiven Berlin gar nicht nötig. Niemand trifft hier aufeinander, Reibung entsteht nicht. „Ich ging noch einmal zu der Bar, die eigentlich nur eine schlecht getarnte Abschleppkneipe war“, schreibt Annett Gröschner in Berlin bei Nacht. „Da sich alle ähnlich sahen, fiel mir die Wahl viel weniger schwer als vor dem Joghurtregal in der Kaufhalle.“ Begegnungen mit (dem) Unbekannten finden nicht statt oder erschöpfen sich in one night stands. „Wenn es ein Berlin-Gefühl gibt, dann das: Ich werde dich nie wieder sehen, also denk von mir, was du willst“, schreibt Alexander Krex im einzigen Abschnitt seines Buchs, in dem ein Chronist auftaucht. „Ich schulde dir nichts und du schuldest mir nichts.“ Und er fragt: „Was verbindet uns, außer, daß wir in diesem Moment an diesem Ort sind?“ Keine Antwort. Berlin ist Urbanität ohne Gesellschaft.

Bekanntlich zieht es besonders junge Leute nach Berlin. Im internationalen Vergleich sind hier nämlich Bier und Übernachtung günstig. Die Faszination Berlins speist sich außerdem aus der Geschichte, den revolutionären und kulturrevolutionären Ansätzen während der Weimarer Republik (die von den Nazis so gründlich zerstört wurden, daß nichts übrig blieb), den gruseligen Überresten von Nationalsozialismus („Einschußlöcher“) und deutscher Teilung („Todesstreifen“). Die größte Attraktion übt die Berliner Subkultur seit den siebziger Jahren aus, mit ihrer Genealogie „Punk – Geniale Dilettanten - Industrial – Techno“. (Niemand entgeht in Berlin dem Hinweis, daß auch David Bowie in den späten Siebzigern einige Zeit vor Ort war. Selten erwähnt wird, daß er einen Gutteil seines Aufenthalts damit verbracht hat, nach Zeugnissen von Hitler zu suchen, den Bowie als „Popstar“ bewundert – so viel zum poplinken Lokalpatriotismus!)
Eben von dieser Subkultur handelt Die ersten Tage von Berlin. Der Sound der Wende von Ulrich Gutmair, der früher für „Spex“, „Texte zur Kunst“ und „Telepolis“ schrieb und mittlerweile Redakteur der „Taz“ ist. Materialreich und mit zahlreichen Interviews beschreibt er das Treiben der Kreativen und/oder Hausbesetzer im Stadtteil Mitte zwischen 1990 und 1997.
Von der Trümmerphase unmittelbar nach dem Mauerfall zehrt das heutige Stadtmarketing als trendige Kulturmetropole, wie Gutmair betont: „Die Clubs, Bars und Galerien, die in Mitte entstanden sind, haben das Bild Berlins als wilder, kreativer und produktiver Stadt geprägt.“
Das wilde Berlin steht für Pop, für kulturelle Innovationen, die in der neuen deutschen Hauptstadtkultur keinen sozialen oder sonstigen Inhalt zu haben scheinen. Eine wichtige Figur in Gutmairs Subkulturgeschichte ist Daniel Pflumm, Berliner Künstler und Technogalerist der ersten Stunde. Pflumm empfindet die Logos großer Konzerne nach, wobei er allerdings manchmal den Herstellernamen wegläßt. „Übrig bleiben Formen, die dem Betrachter nur vage bekannt vorkommen, weil ihnen die entscheidende Botschaft fehlt. ‚Die Beeinflussung durch gute Graphik. Wenn man dann das Logo benutzt für was anderes ...‘ Daniel Pflumm führt den Satz nicht zu Ende.“
Von dieser Symbolpolitik ohne Politik zeugen Gutmairs eigene manierierte Formulierungen wie „dieser schlichte, moderne, nur in den Details auf bohemistische Neigungen verweisende Stil“, „ich komme aus einer Szene, in der man steht und raucht“ Kommunikation im öffentlichen Raum findet statt als close reading von Klamotten und Frisur der anderen Straßenbenutzer - ein Topos, der sich in allen drei Berlin-Büchern findet. Alexander Krex beschreibt eine U-Bahn-Fahrt, während der der Erzähler fortwährend die Fahrgäste taxiert. „Turnschuhe sind ein Statement“ (Gutmair), jedes Accessoires ist bedeutsam, es soll etwas „aussagen“. Man weiß nur nicht, was. Berlin ist Aussagekraft ohne Aussage.
Hat aber nüscht zu bedeuten. Der Kleidungsstil ist um so wichtiger, je weniger sich die Lebensstile unterscheiden – und damit sind wir wieder bei der Frage, was das Berlinische an der Berliner Republik ist: Dieses tolerante Einkaufszentrum der Identitäten mit unüberschaubarem Angebot ist in Wirklichkeit höchstens ein Discounter.

"Berlin vereint die Nachteile einer amerikanischen Großstadt mit denen einer deutschen Provinzstadt", schrieb Kurt Tucholsky im Sommer 1919. Damals gab es in der Großstadt einiges, was in der trägen deutschen Provinz rar war, unter anderem eine unübersehbare, wenn auch niedergehaltene Arbeiterbewegung, Nischen für die Boheme, sexuelle Libertinage, wissenschaftliche und kulturelle Neuerungen und vieles mehr. Wie rabiat damals in Berlin regionale und religiöse Eigenheiten und Traditionen abgeschliffen wurden, kam den Zeitgenossen „amerikanisch“ vor. Heute dagegen macht die Opposition von Metropole und Provinz tendenziell keinen Sinn mehr. Die Berliner Republik trägt ihren Namen zu Recht, weil es hier genau dasselbe gibt wie im übrigen Deutschland. Nur eben viel mehr davon.
Um so besser eignet sich Berlin als Metonymie, besser noch als Weimar oder Bonn. Daß sich in den Feuilletons die Elogen und Tiraden häufen, ist kein Zufall. In ihnen wird über die Nation verhandelt. In diesem Zusammenhang würde es mehr lohnen, sich etwa mit Dessau zu beschäftigen, aber das ist nicht opportun und gilt deshalb als langweilig. Nach innen wie nach außen steht Berlin für die sympathische, weil hippe und kosmopolitische Seite Deutschlands. Der italienische Autor Angelo Boulaffi beispielsweise begründet in Cuore tedesco („Das deutsche Herz“), im Frühjahr in Italien erschienen, warum er mit der Dominanz Deutschlands in Europa kein Problem hat. Er tut das ausdrücklich und ausführlich am Beispiel Berlin. Als deutsche Qualitäten führt Boulaffi neben der Sozialpartnerschaft die fortschrittliche Umweltpolitik und, schwer zu glauben, die vorbildliche Integration von Zuwanderern an, woran sich die Südländer ein Beispiel nehmen sollten. In ihrer Rezension betont die „Süddeutsche“ die politische Bedeutung dieser Image-Aufwertung: „Wir haben Europa mehr anzubieten als schmallippige Regeltreue und bittere Haushaltskonsolidierung, nämlich einen attraktiven Lebensstil, zusammengesetzt aus postnationaler Lässigkeit und sozialer Verläßlichkeit.“
Francesco Masci, wie Boulaffi Italiener und lange Zeit in Berlin ansässig, traut dagegen dem „sanften Hegemon Deutschland“ („Der Standard“) nicht recht. In L’ordre règne à Berlin („Ordnung herrscht in Berlin“), einem sozialphilosophischen Traktat á la Giorgio Agamben, versucht Masci zu zeigen, daß gerade das reibungslose und harmonische Funktionieren der Berliner der aktuelle Ausdruck einer unheilvollen Postpolitik sei. „Kulturhauptstadt“ ist Berlin in diesem Sinne, weil alles zur Kultur geworden ist.
Mascis Analyse ist unergiebig. Ganz wie Boulaffi oder die deutsche Hauptstadtliteratur hebt er auf die merkwürdige, vermeintlich reibungslose Urbanität Berlin ab, in der alle gesellschaftlichen Widersprüche geglättet zu sein scheinen, reduziert auf Fragen des Lebensstil und damit auf individuelle Geschmacksurteile. Der Eindruck der Reibungslosigkeit entsteht wohl daraus, daß Deutschland die Folgen der Weltwirtschaftskrise bisher aufs europäische Ausland abwälzen kann. Während die Jugendlichen in Spanien wenig zu lachen haben, regieren in der deutschen Hauptstadt kulturelle Versiertheit und „soziale Harmonie“ bei gleichzeitiger politischer Apathie. Masci macht das Angst, Boulaffi begrüßt es: Völker der Welt, so bunt und friedlich und dabei fleißig wie die Berliner sollt ihr sein!
„Wild, jung, produktiv“ steht Berlin für die unmögliche Versöhnung von Hedonismus und Leistungswillen, Dissidenz und Establishment. Dieses Berlin ist eine Utopie im Sinne von Traumtänzerei, ein Ort, an dem wilde Leute kreative effiziente Sachen machen und der Neoliberalismus deutscher Prägung niemals mit seinen Widersprüchen konfrontiert werden wird. So paßt am Ende wieder fast alles fast nahtlos zusammen. Alle Sonderwege sind durchschritten, Berlin hat seinen Platz in Deutschland hat seinen Platz in der Welt gefunden.

 

Susanne Gretter (Hg.): Berlin bei Nacht. Neue Geschichten. Suhrkamp, Berlin 2013.

Ulrich Gutmair: Die ersten Tage von Berlin. Der Sound der Wende. Tropen, Stuttgart 2013.

Alexander Krex: 3,543676 Berliner. Rogner & Bernhard, Berlin 2013.

 

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