|
Die Freiheit, die sie meinen Die klassischen ordoliberalen / neoliberalen Schriften lesen sich wie eine Blaupause für das Jahr 2021. (KONKRET, Juni 2021)
Anfang des Jahres versuchte der Rat der „Friedrich-August-von-Hayek-Stiftung für eine freie Gesellschaft“ die AfD auszugrenzen. Eine Mitgliedschaft in der Partei oder die Mitarbeit in ihren Parlamentsfraktionen seien „unvereinbar mit den Anliegen, dem Werk und der Person Friedrich August von Hayek“. Obwohl die Stiftung die Hayek-Gesellschaft maßgeblich finanziert, konnte sich der Rat nicht durchsetzen. Zu dem Verein gehören unter anderem die AfD-Funktionäre Beatrix von Storch, Peter Boehringer, Dirk Friedrichs und bis vor kurzem Alice Weidel. Der „Kleinkrieg der Hayekianer“ (FAZ) ist nicht neu. 2015 beklagte die damalige Vorsitzende Karen Horn öffentlich, dass reaktionäre Tendenzen zunähmen. Manche Mitglieder hetzten „mit Dauerschaum vor dem Mund“ gegen „Demokratie, Feminismus, Pluralität, Homosexualität, Atheismus … >Multi-Kulti-Umerziehung<“. Den darauf einsetzenden Machtkampf verlor Karen Horn und verließ den Verein, zusammen mit zahlreichen anderen Mitgliedern (darunter bekannte Namen wie Lars Feld, Bernd Raffelhüschen und Christian Lindner). Es blieben laut der Süddeutschen Zeitung „der Hörgeräte-Hersteller Oliver Geers, Erich Sixt, Theo Müller (Müller-Milch), Melitta-Erbe Thomas Bentz … Hans-Adam II. Fürst von Liechtenstein … Siegfried von Hohenhau“ (Stand 2017). Später verabschiedete sich der Stiftungsvorstand Peer Ederer mit der Begründung, der Verein versinke in einem „nationalistisch-völkischen Sumpf“. Nun facht eine mögliche Beobachtung der Partei durch den Verfassungsschutz den Richtungsstreit erneut an. Ähnliche Auseinandersetzungen werden in der Ludwig-Erhard-Gesellschaft geführt, wo der Vorsitzende Roland Tichy im Herbst 2020 mühsam aus dem Amt gedrängt wurde. „Warum tut sich freiheitliches Denken so schwer?“, fragt die Frankfurter Allgemeine angesichts des „Streits im liberalen Lager“. „Ausgerechnet die Liberalen geraten immer wieder in den Dunstkreis derjenigen, die Freiheiten von Minderheiten, Frauen und Fremden unterdrücken wollen.“ Die Frage ist berechtigt. Mittlerweile lassen sich marktradikale und völkisch-reaktionäre Bewegungen kaum noch entwirren; trotz gewisser Konflikte überlappen sie organisatorisch, personell und inhaltlich. Aber wie passt der neoliberale Besitzindividualismus zum nationalen Kollektiv? Wie gehen Freiheitspathos und die Ablehnung anderer Herkünfte und Lebensentwürfe zusammen? Anders gefragt, wie „liberal“ ist eigentlich die Tradition, die von Hayek mitbegründete? Zwei neue Bücher helfen dabei, diese Frage zu beantworten. Der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher und der Historiker Quinn Slobodian haben die neo- und ordoliberale Debatte seit den 1930er Jahren analysiert, darunter die Schriften von Friedrich von Hayek, Ludwig von Mises, Wilhelm Röpke, Walter Eucken und James M. Buchanan. „Bestimmte Variationen des neoliberalen Denkens beinhalteten von jeher eine autoritäre Dimension“, erklärt Biebricher in Politische Theorie des Neoliberalismus. „Versteht man ihn richtig, nämlich als kapitalistische Märkte, die in autoritäre politische Formen eingebettet sind, dann ist er keineswegs am Ende – womöglich hat er gerade erst begonnen.“ Slobodian definiert in Die Globalisten das neoliberale Projekt als den Versuch, „die Märkte zu ummanteln, um den Kapitalismus gegen die von der Demokratie ausgehenden Bedrohungen zu isolieren.“
Staaten machen Märkte
Welches Verhältnis von Markt und Staat wünschen sich die Neoliberalen? „Sie sind keine Marktfundamentalisten“, betont Thomas Biebricher, obwohl ihnen der sogenannte Preismechanismus als überlegene Form der Steuerung gilt, weit besser als Planung und Diskurs. Aber die Gesetze von Angebot und Nachfrage können aufgrund von gesellschaftlichen Hindernisse und menschlichen Unzulänglichkeiten nicht unverfälscht wirken. Deshalb müssen effiziente Märkte geschaffen und geschützt werden, von einem starken Staat mit Hilfe von Recht und Gewalt durchgesetzt werden. Den Neoliberalen geht es um die politischen und sozialen Bedingungen, unter denen Märkte funktionieren können. Staatsfeindlich, wenigstens skeptisch sind die Neoliberale insofern, als dass Volksvertreter durch ihre Eingriffe den Preismechanismus untergraben oder verfälschen können. „Wir wollen nicht klüger sein als der Markt“, erklärte einmal der britische Premierminister Tony Blair. Diese Haltung gilt als vorbildlich. Die hartnäckige Weigerung von Politik und Bevölkerung, die Weisheit der Märkte zu erkennen, trieb die Neoliberalen von Anfang an in eine Konfrontation mit der Volkssouveränität. „Wenn Demokratie Regierung durch den uneingeschränkten Willen der Mehrheit heißen soll, bin ich kein Demokrat“, erklärte von Hayek mit charakteristischer Offenheit. „Eine Demokratie kann totalitäre Gewalt ausüben“, kommentierte er den Militärputsch gegen die linke chilenische Regierung unter Salvadore Allende, während der Putschist Pinochet immerhin „nach liberalen Grundsätzen handelt“. Heute fordern AfD-nahe Autoren wie der Unternehmer Markus Krall oder der VWL-Professor Roland Vaubel, Empfängern von Transferleistungen solle das Wahlrecht entzogen werden. Auch von Hayek argumentierte, dass „den Idealen der Demokratie besser gedient wäre, wenn alle Staatsangestellten oder alle Empfänger von öffentlichen Unterstützungen vom Wahlrecht ausgeschlossen wären“. Rechtspopulisten und Neoliberale eint, dass sie Umverteilung von oben nach unten ablehnen. Deswegen teilen sie eine zwiespältige Haltung zur Demokratie, in der latent immer Übergriffe aufs Privateigentum drohen.
Der Staat müsse über den Interessen stehen, um als unparteiischer Schiedsrichter die „Leistungskonkurrenz“ durchsetzen zu können. Die Neoliberalen kritisieren, dass Politiker die illegitimen Forderungen von Armen, Lohnabhängigen oder Minderheiten erfüllten, um an die Macht zu kommen oder dort zu bleiben. So werde der Staat zur Beute von Partikularinteressen, die „politische Renten“ kassieren. Diese Kritik findet sich bereits in den frühen Schriften, damals gegen die Weimarer Republik gerichtet. Es herrsche eine „Gruppenanarchie“ (Walter Eucken), der Staat werde vom „Ansturm der Interessenhaufen auseinandergerissen“ (Alexander Rüstow). „Es ist der Traum davon, den gordischen Knoten der liberalen Demokratie zu zerschlagen“, kommentiert Thomas Biebricher, „dass endlich jemand mit >starkem Besen< den >Saustall ausmistet< oder auch >den Sumpf trockenlegt<, zu dem der parlamentarische Betrieb verkommen sei.“
Erfolgreiche „Einhegung der Demokratie“
Die neoliberale Theorie entstand zu einem Gutteil vor ihrem Durchbruch in den 1980er Jahren, als Margaret Thatcher und Ronald Reagan an die Macht kamen. Dabei waren sich die Neoliberalen selten einig, ihre Vorschläge wurden niemals buchstäblich umgesetzt. Um so verblüffender, dass sich diese Theorie dennoch wie das Drehbuch zu dem Horrorfilm ausnimmt, in dem wir uns heute wiederfinden. Den Unzulänglichkeiten und Gefahren der Demokratie wollten die Neoliberalen mit institutionellen Arrangements sowohl auf nationaler und internationaler Ebene begegnen. Quinn Slobodian zeichnet nach, wie die neoliberale „Genfer Schule“ die freie Verfügung über das Eigentum gleichsam zum Menschenrecht erklärte, um den Weltmarkt für Investoren sicher zu machen. Sie kämpfen gegen supranationale Regulierungen, die die Freiheiten von Kapitaleignern eingeschränkt hätten. Dabei schwankten sie zwischen bilateralen und multilateralen Strategien, ganz so wie die Freihandelspolitik Nordamerikas und Europas seit den 1990er Jahren. Entsprechend ihrer Demokratiekritik neigten die Neoliberalen zur Technokratie. Um die staatlichen Interventionen zu „entpolitisieren“ und der öffentlichen Debatte zu entziehen, sollten sie automatisch greifen, so wie die Schuldenbremse, die auf James M. Buchanan zurückgeht, die Geldpolitik der Zentralbanken oder ein Staatsbankrott. Mit einigen Umwegen entwickelte sich die Europäische Union exakt so, wie es ihnen vorschwebte, sodass Thomas Biebricher zurecht „die Ordoliberalisierung Europas“ konstatiert. Gegenwärtig verklagen ein US-amerikanischer und ein niederländischer Versicherungskonzern Argentinien und Bolivien beim Schiedsgericht der Weltbank für Investitionsstreitigkeiten, weil die beiden Länder die Privatisierung ihrer Rentensysteme rückgängig gemacht haben. Die kühnsten Träume der Neoliberalen sind wahr geworden, und Vorschläge, die bis in die 1970er Jahre hinein lediglich provokativ gemeint waren, zur gängigen Praxis, entsprechend des Alltagsverstands. Gleichzeitig erodiert die liberale Demokratie und Intoleranz grassiert. Zufall? Die neoliberalen Vordenker fassten Freiheit als Verfügung über privates Eigentum auf. Religion, Nationalität und Lebensführung (inklusive Sexualität, Erziehung oder Abtreibung) waren für von Hayek oder Ayn Rand nebensächlich, Privatsache eben, in die sich niemand einzumischen habe. Dieses Desinteresse darf nicht mit einer grundsätzlich permissiven Haltung verwechselt werden. Individuelle Freiheit benötigt materielle Grundlagen, in „Marktwirtschaften“ ist sie notwendig ungleich verteilt. Aber dieser Zusammenhang taucht einfach nicht auf, der Neoliberalismus setzt den Besitzbürger stillschweigend voraus, übrigens auch der „progressive Neoliberalismus“ (Nancy Fraser). Ganz selten behauptete er, alle Menschen könnten welche werden, oder wenn schon nicht alle, dann wenigstens du. Selbst die merkwürdige Ehe von reaktionärem Kulturkampf und Marktradikalismus ist nicht neu. „Das Schicksal der Marktwirtschaft mit ihrem bewunderungswürdigen Mechanismus von Angebot und Nachfrage entscheidet sich – jenseits von Angebot und Nachfrage“, heißt es bei Wilhelm Röpke. Die „bürgerliche Ordnung“ ruht auf „der rechten Einbettung in enge Gemeinschaft, Familie … moralische Bindung, Respekt vor der Unantastbarkeit des Geldwertes, der natürlichen Ordnung und Rangordnung der Werte“. Funktionierende Märkte und Tradition stützen sich wechselseitig. So kehren sie zurück in die kalt-effiziente Welt des Preismechanismus: die heteronormative Familie, Heimatliebe und Patriotismus, der Glaube an Gott, und sei es nur, weil sie so nützlich sind.
Thomas Biebricher (2021) Die politische Theorie des Neoliberalismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch. Quinn Slobodian (2019) Globalisten - Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
|