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Vergesst die Multitude!
Auf dem Weg vom Postoperarismus über den Poststrukturalismus zum Postmarxismus
Irgendwie ist sie wie Weingummi, in aller Munde, und trotzdem weiß keiner so genau, woraus sie gemacht ist: die Multitude. In die Debatte gebracht wurde der Begriff von Antonio Negri und Michael Hardt mit dem Theorie-Bestseller „Empire“ und in Deutschland überwiegend ungnädig aufgenommen. Negris und Hardts Versuch, den Marxismus italienisch-linksradikaler Prägung mit Versatzstücken aus der postmodernen, in der Regel französischen Theorie zu verbinden, wurde fast ausnahmslos als gescheitert angesehen. Anderswo allerdings gilt "Empire" und vor allem der Begriff der "Multitude" vielen in der globalisierungskritischen Bewegung als begriffliche Klammer. Was haben südamerikanische Sozialdemokraten und –demagogen mit ostindischen Bauern und diese wiederum mit südasiatischen Homosexuellen gemeinsam? Eben – alle sind ein bisschen Multitude.
Antonio Negri ist der bekannteste, vielen der einzig bekannte Vertreter des Operaismus. Diese marxistische Strömung entstand in Italien in den 50er Jahren als Reaktion auf die Integration der kommunistischen und sozialistischen Parteien in das parlamentarische System. Negri und Genossen rückten statt dem Taktieren der Volksvertreter die Spontaneität und Subjektivität der Arbeiter in den Mittelpunkt ihrer Analysen und Interventionen – direkt übersetzt bedeutet operarismo "Arbeiterwissenschaft". Zwischen 1968 und 1977 inspirierte der Operaismus die Streiks und sozialen Bewegungen. Mit dem revolutionären Aufbruch zerbrach dann auch der Diskussionszusammenhang der Operaisten.
Zwei von Negris ehemaligen Mitstreiter melden sich nun wieder zu Wort. Paolo Virno lehrt Philosophie an der Universität von Kalabrien und untersucht in seiner „Grammatik der Multitude“ die „gegenwärtigen Lebensformen“; Sergio Bologna dagegen hat den Dozentenberuf aufgegeben, arbeitet unter anderem als Unternehmensberater in Mailand und wendet sich in „Die Zerstörung der Mittelschichten“ den Lebens- und Arbeitsformen der Selbständigen zu.
Unterschiedlicher könnten diese Bücher nicht sein. Während Bologna aus dem Nähkästchen plaudert und auf Theorie weitgehend verzichtet, betreibt Virno Philosophiegeschichte. In der europäischen Geistesgeschichte, vor allem den Schriften der Philosophen Thomas Hobbes’ und Baruch Spinozas, entdeckt er die "Multitude" als die seit dem 17. Jahrhundert unterdrückte Alternative zum Begriff des "Volks". Das Volk ist an die Existenz des Staates gebunden, gleichzeitig Voraussetzung und Resultat einer gewaltsamen Homogenisierung zum Zweck der Verwertung. Heute aber, nach Ende des Fordismus, so Virno, überschreitet das kreative Potential der Multitude alle Grenzen. Für ihn ist die Multitude "die Seinsweise der Vielen als viele" – eine Kollektivität, die Unterschiede nicht ausmerzen muss. Im Gegensatz zu der schwärmerischen Rhetorik in "Empire" betont er aber auch, dass es sich dabei um eine „ambivalente Seinsweise“ handelt: nicht nur Unabhängigkeit und Kooperation, sondern auch „Opportunismus, Zynismus, soziale Angepasstheit, unermüdliche Selbstverleugnung, heitere Resignation“ sind ihre Kenzeichen. In dieser Entfremdung sei aber auch die Möglichkeit enthalten, die Angelegenheiten vorurteilslos zu begreifen und selbst zu regeln.
"Wenn man denn die Einfachheit um jeden Preis will, hilft vielleicht eine Flasche Rotwein", schreibt Virno. Übertreibt man es allerdings mit den geistigen Getränken, beginnt man doppelt zu sehen: Virnos Argumentation zeichnet sich vor allem durch Ekklektik aus; von Carl Schmitt über Benjamin und Hannah Arendt bis zu Arnold Gehlen tritt auf, was in der akademischen Diskussion Eindruck macht. In einer Zeit ohne Bewegungen mag es verständlich sein, sich der Erkenntniskritik zuzuwenden, aber er verflüssigt die Begriffe, bis sie jeden Gehalt verlieren und zwischen den Fingern zerrinnen. Politik definiert er beispielsweise als "die allgemein menschliche Erfahrung, etwas Neues zu beginnen, die enge Beziehung zur Kontingenz und zum Unvorhergesehenen, die Selbstenthüllung vor den Augen anderer". So entstehen Spekulationen, etwa über den veränderten Charakter der Arbeit, die so wahr sind wie ihr Gegenteil.
Sergio Bologna ist da handfester. In der poststrukturalistischen, postoperaistischen Szene nimmt er eine Sonderstellung ein. Obwohl er die freiberuflichen Intellektuellen in den Mittelpunkt rückt, teilt er nicht die triumphale Geste eines Negri, nach der die Multitude und ihr Kern, die „immaterielle Arbeit“, als weltweite autonome produktive Kooperation Staat und Kapital längst nicht mehr nötig haben. Bologna weiß aus eigener Erfahrung und Forschung, wie scheinhaft die Unabhängigkeit und Selbstbestimmung der immateriell Arbeitenden ist. Von der Arbeiterklasse hat er sich verabschiedet, stattdessen sucht er nun für die von der Krise bedrohten Mittelschichten nach "Formen des Zusammenschlusses und des Schutzes der eigenen Rechte". Sollten die europäischen Freiberufler nicht bald zur Gegenwehr greifen, so seine Einschätzung, stünde ihnen wegen der Globalisierung nicht weniger als die Zerstörung als Klasse bevor, sprich: der Abstieg ins Proletariat.
Die soziale Situation von mancher Scheinselbständigen würde sich dadurch sogar verbessern. In der schonungslosen Beschreibung ihrer wirklichen Situation liegt die Stärke dieses Buches. Gerade die Bezahlung als Honorar statt als Lohn setzt die Selbständigen der Rechtlosigkeit aus. Ein großer Teil ihrer Arbeit, nämlich die unverzichtbare Kommunikation mit ihren Kunden, wird nicht als Arbeitszeit anerkannt und entlohnt. Am Rande der Arbeitslosigkeit können viele es sich nicht leisten, einen Auftrag abzulehnen; ständig müssen sie Rücklagen bilden, um auftragsfreie Zeiten zu überstehen. All das führt nicht zuletzt zu einer extremen Verlängerung der Arbeitszeit.
In guten Momenten ist Virnos philosophische Plauderei am Kaminfeuer inspirierend und Bolognas Anekdoten überraschend. Wer sich aber aus revolutionärem Interesse einem dieser beiden Bücher widmen will, sollte dann doch lieber zu einer Tageszeitung greifen.
Sergio Bologna (2006) Die Zerstörung der Mittelschichten: Thesen zur neuen Selbständigkeit. Wien / Graz: Nausner & Nausner.
Paolo Virno (2005) Grammatik der Multitude: Untersuchungen zu gegenwärtigen Lebensformen. Berlin: ID Verlag.
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