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Vergessene Bücher: "Zwei Formen des Arbeiterradikalismus in der deutschen Arbeiterbewegung"
Vielleicht lag der relative Erfolg dieser Veröffentlichung auch darin begründet, dass die deutschen Linken 1976 ahnten, dass es vorerst vorbei sein würde mit Vorwärtsstürmen und Umstürzen. Es begann eine "neue weltweite Metternich-Zeit", wie Erhard Lucas formulierte, und die Ursachenforschung. Woran scheiterte die deutsche Arbeiterbewegung? Wie muss sich das Proletariat organisieren? Lucas’ historische Studie über Arbeiterradikalismus zwischen 1917 und 1920 war gründlich und ernsthaft, das Ergebnis jahrelanger Forschung. Sie genügte allen akademischen Standards und war dennoch vom revolutionären Erkenntnisinteresse geprägt.
Die linke Geschichtsschreibung seit 1968 hat wenig Gleichwertiges zustande gebracht. Von heute aus betrachtet beeindruckt am meisten, wie Lucas seine These pointiert, ohne die Forschung einer vorher feststehenden Theorie unterzuordnen. Ein instrumentelles Verhältnis zur Wahrheit, wie sie in der linken Publizistik mittlerweile die Regel ist, war Lucas fremd. Historiker und Theoretiker haben notwendigerweise ein gespanntes Verhältnis: dem einen müssen die Abstraktionen des anderen immer zu weit gehen. Lucas hielt diese Spannung vorbildlich durch. In den 1950er Jahren hatte er Theologie studiert, sich langsam von seiner tiefreligiösen Prägung befreit und begonnen, in Freiburg Geschichte zu studieren. Im dortigen SDS war er einer der wichtigen Akteure und unterrichte später in Oldenburg. 1993 ist Lucas gestorben.
In Zwei Formen des Radikalismus der deutschen Arbeiterbewegung wandte er sich gegen eine seinerzeit verbreitete "dogmatische Globalthese" (Lucas), die unter anderen Karl-Heinz Roth vertrat. Kurz und schlecht gesagt: die Revolutionsversuche nach dem 1. Weltkrieg, samt Rätebewegung, seien von Facharbeitern getragen worden, die ihre vergleichsweise erträgliche Stellung gegen Rationalisierung und Dequalifizierung verteidigen wollten. Ihre Forderungen und Bedürfnisse seien aber von vornherein beschränkt; statt die Gesellschaft umzuwälzen, seien sie zufrieden damit, ihre Führer an die Macht zu bringen. Im Gegensatz dazu stünden die "Massenarbeiter", die der Arbeit feindlich gegenüberstünden, und deren „andere Arbeiterbewegung“ (Roth) nun zu entdecken sei.
Lucas widerlegt diese Vereinfachung am Beispiel der Ruhrgebietsstädte Hamborn und Remscheid, die jeweils für einen dieser Arbeitertypen und damit eine bestimmte Politik stehen. "Im Vergleich zwischen Hamborn und Remscheid können wir zwei verschiedene Arten der Proletarisierung unterscheiden", schreibt er, "die Freisetzung von Arbeitskraft infolge der Zerstörung des Handwerks einerseits, das Ansaugen von Menschenmassen aus agrarischen Provinzen und Regionen andererseits." Remscheid hieß damals nicht nur "das rheinische Sheffield", was auf die alte handwerkliche Tradition verweist, sondern auch "Bergisch-Moskau". Die Arbeiterbewegung hatte hier Partei- und Gewerkschaftsführer hervorgebracht, deren Aktionen ab 1918 auf die Eroberung der Staatsgewalt abzielten, die aber mit der Spontaneität des Proletariats buchstäblich nichts anzufangen wussten. Die Arbeiter in Hamborn waren wesentlich schärferer Verelendung ausgesetzt und galten als unorganisierbar. (1910 lag der Anteil der Migranten dort bei 36 Prozent, und die Bevölkerungszahl hatte innerhalb von zehn Jahren verdreifacht – ein Szenario übrigens, das dem heutiger asiatischer Industriemetropolen aufs Haar gleicht.) Die Massenarbeiter Hamborns entfalteten, abseits von den Parteien und Gewerkschaften, eine Revolte mit unmittelbar wirtschaftlichen Zielen, die gerade deshalb revolutionäre Wirkungen zeitigte. Lucas zeigt nun die Beschränktheit und Isolation beider Strömungen und erklärt so, warum die Revolution scheiterte – und damit auch den Weg für den Nationalsozialismus freimachte.
Erhard Lucas (1976) Zwei Formen des Radikalismus in der deutschen Arbeiterbewegung. Frankfurt: Roter Stern.
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