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„Davon haben wir nichts gewusst!“ Angesprochen auf die „Endlösung der Judenfrage“ lautete so die letzte Verteidigung der Deutschen nach dem Krieg, obwohl die doch jahrelang auf allen Kanälen propagiert worden war. Die vorgeschobene Unwissen hörten die alliierten Soldaten so häufig, dass sie ihnen, nach den Worten der amerikanischen Journalistin Margaret Bourke-White, „wie eine deutsche National-Hymne vorkamen.“ Peter Longerich will in seiner Untersuchung über „die Deutschen und die Judenverfolgung“ die Legende von der Unwissenheit der Bevölkerung widerlegen und außerdem ihre Einstellung zu Judenverfolgung und Massenvernichtung ermitteln. Um es vorwegzunehmen: das erste Vorhaben gelingt, das zweite nicht.
Als Schutzbehauptung erkennbar war die vorgeschobene Unwissenheit schon 1945. Insofern ist es irreführend, hier von einem „Tabu“ zu sprechen, oder Longerichs Untersuchung als „fällige Korrektur unseres Geschichtsbild“ zu begrüßen, wie es einigen Rezensenten getan haben. Der Autor bezieht sich auf eine Vielzahl von Quellen, an erster Stelle auf die Joseph Goebbels zugeleiteten Stimmungsberichte und die Berichte der exilierten SOPADE; außerdem wertet er die zeitgenössische Presse und Berichterstattung des Rundfunk aus. So kann er nachweisen, dass es in Deutschland kaum möglich war, über die Vorgänge im Osten unwissend zu bleiben. Schließlich hatte der Führer selbst im Januar 1939 „die Vernichtung der jüdischen Rasse“ „prophezeit“, woran in den folgenden Jahren immer wieder öffentlich erinnert wurde. Longerich zeigt, wie die Eskalation der antisemitischen Politik von Wellen intensiver Propaganda und kaum verhüllten Vernichtungsdrohungen begleitet wurden. Eine weitere Informationsquelle war die Kriegspropaganda die Alliierten, obschon die, um die Wirksamkeit ihrer Kampagnen fürchtend, den Völkermord kaum herausstellten. Die Shoah war unter den Deutschen ein offenes Geheimnis, obwohl Details wie die Tötungsart und die Standorte der Lager diffus blieben.
Longerich folgt der Einschätzung des israelischen Historikers David Bankier, das Regime habe bewusst versucht, durch die Mischung aus strenger Geheimhaltung der Details und eindeutiger Hinweise auf den Massenmord die Bevölkerung „in die Verantwortung für das Geschehen mit einzubeziehen“. Gerade das aber habe sich als kontraproduktiv erwiesen, als sich die Niederlage immer deutlicher abzeichnete, denn als Volk wollten die Deutschen keineswegs zur Verantwortung gezogen werden. Die Kampagne „Kraft durch Furcht“ vor der Vergeltung war daher ein verheerender Misserfolg, weshalb der Antisemitismus in den letzten Kriegsjahren in den Hintergrund der Propaganda trat.
So weit ist Longerichs Synthese verdienstvoll, lebendig geschrieben und offensichtlich das Ergebnis jahrelanger Forschung. Insofern sie aber von den inneren Einstellungen der Deutschen handelt, muss sein quellenkritischer Ansatz versagen: das Wesentliche findet nicht in den Aufzeichnungen, nicht in den Presseartikeln und Gestapoberichten. Das „niemals geschriebene und niemals zu schreibende Ruhmesblatt unserer Geschichte“ nannte SS-Reichsführer Heinrich Himmler den Völkermord. Die Beweggründe und Haltungen der Täter kommen in diesem Buch nicht in den Blick; Briefe von der Ostfront, die Erzählungen heimkehrender Soldaten und die eindeutigen Gerüchte über „Vergasung“ spielen kaum eine Rolle. Longerich ordnet die Eskalation zwischen 1933 und 1945 auch nicht in die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland ein, wodurch das Verhalten der Bevölkerung gegenüber den Juden möglicherweise verständlicher geworden wäre.
Stattdessen steht die Propagandapolitik der Nazis im Zentrum, die während der ganzen Zeit Rücksichten auf die Politik des Auslands nehmen musste. Longerich konstatiert, dass es unter den Bedingungen der Diktatur keine „öffentliche Meinung“ gibt. Als authentische Macht oder gar objektive Größe ist sie schließlich auch in parlamentarischen Demokratien eine Fiktion. Im Nationalsozialismus aber war nicht einmal Meinungsstreit vorgesehen, weil das Volk als organische Einheit nur den einen Willen und die eine Meinung zu haben hatte. Dennoch beharrt der Historiker darauf, der eindeutigen veröffentlichten Meinung unter der Naziherrschaft eine alternative, allerdings diffuse Meinung der Deutschen entgegenzusetzen. So lautet Longerichs Fazit: „Zwischen Wissen und Nichtwissen gab es (...) eine breite Grauzone, gekennzeichnet durch Gerüchte und Halbwahrheiten, Imagination; verordnete und selbstauferlegte Kommunikationsbeschränkungen, Nicht-Wissen-Wollen und Nicht-Begreifen-Können.“
Die vorherrschende Indifferenz gegenüber der antisemitischen Politik bleibt interpretationsbedürftig, sie kann als maulendes Mitmachen oder als versteckte Ablehnung gedeutet werden. Aber selbst wenn damals eine Meinungsumfrage stattgefunden hätte mit der Frage „Finden Sie, die Endlösung ist eine gute Sache?“ – was hätte sie belegt? Eine eindeutige Angelegenheit wird Meinung erst, wenn sie sich in beobachtbares Verhalten wandelt. Dass sich die angebliche Sympathie bestimmter Deutscher mit den Juden so schrecklich selten in konkrete Hilfe oder Widerstand umsetzte, macht Longerichs Erörterung im schlechten Sinne spekulativ. So heißt es an einer Stelle gar, die Haltung der deutschen Bevölkerung gegenüber den Juden habe in den letzten Kriegsjahren zwischen „Feindseligkeit und Sympathie“ geschwankt, was so richtig wie belanglos ist, schließlich schwankten die Deutschen zwischen Widerstand und Mittäterschaft. Statt diesen wesentlichen Unterschied zu erhellen, verbleibt der Autor im Ungefähren. „Alles ist richtig, auch das Gegenteil“, schrieb Tucholsky, „nur »Zwar... aber«, das ist nie richtig.“ Die Wahrheit über die Deutschen und die Shoah findet sich, obwohl Longerich quellenkritisch und gründlich vieles zusammenträgt, viel eher in Büchern wie der Studie Christopher Brownings über die gewöhnlichen Mörder der Reservepolizei in Polen.

Peter Longerich: »Davon haben wir nichts gewusst!« Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945; Siedler Verlag, 2006.

Christopher R. Browning: Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen. Rowohlt Verlag 2006.

 

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