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(Konkret, November 2015)

Vor einem Jahr machte ein Gerücht über eine neue Modewelle die Runde, einen Kleidungsstil namens „Normcore“. Dabei handelt es sich, angeblich, um ganz durchschnittliche, möglichst unauffälliger Freizeitkleidung, die aber – das ist der Insider-Witz dabei – gerade Hipster bevorzugen. Square is the new hip. Das markiert einen popkulturellen Wendepunkt, in gewisser Weise einen Endpunkt: Während sich fast alle mit subkulturellen Accessoires schmücken und noch die schlimmsten Karrieristen ihre Haut großflächig mit Tätowierungen bedecken, wollen die Eingeweihten einfach nur normal aussehen. Der Mainstream wird Sache einer Minderheit. Wir haben eine 360 Grad-Drehung hinter uns und stehen etwas schwindelig am Ausgangspunkt – was ist eigentlich das Normale? Wer gehört dazu, wer muss draußen bleiben?

Sicher, diese ganze Geschichte wurde von einer Marketingagentur und einer Handvoll Journalisten lanciert, auf ihrem Höhepunkt hatte die Mode wahrscheinlich höchstens drei Dutzend Anhänger. Sicher, die Hipster vereint keine subkulturelle oder jugendkulturelle Identität. Sie bedienen sich lediglich einiger Strategien von Sub- und Jugendkultur – Innovation, Distinktion, Überaffirmation – und wenden sie auf beliebiges Material an. Aber all das macht „Normcore“ gerade bezeichnend. Einerseits ist der Konformitätsdruck auf die jungen Leute so stark geworden, dass schon ein paar unnütze Interessen und ein bisschen zeitraubender Drogenkonsum zu einem echten Risiko für den weiteren Lebensweg geworden sind. Gleichzeitig sucht die kulturindustrielle Maschinerie verzweifelt nach Abweichung und Abwechslung.

Auftritt Karlheinz. „Papa fotografiert meine elektrische Eisenbahn in meinem Zimmer in Ludwigshafen, Leuschnerstr. 19“, notiert der 22jährige im Jahr 1953 in einem Taschenterminkalender. Die vollständige Adresse der elterlichen Wohnung, aus der Karlheinz zeit seines Lebens nicht ausziehen wird, vergisst er nicht. „Meine Eisenbahnfahrt alleine nach Karlsruhe (Mittagessen) in Technischer Hochschule (in Vorlesung) und Fahrt zur Technischen Westhochschule / 1. Mal: 5,- DM“,. heißt es ein Jahr später. Die erwähnte Summe verweist auf die Dienstleistung einer Prostituierten. „Papa schlägt mich mit Stock im Keller“, vermerkt er, oder: „Bei Dr. Riedel, Halsarzt, Ludwigshafen, Lutherplatz, Halsentzündung (Hustensaft, Penicillintabletten) / Zu Fuß: ab Rothsteig-Parkplatz, in Bad Dürkheim (Kaffee).“

Karlheinz ist ein Nonkonformist wider Willen, ein Freak vor dem Herrn, der keiner sein will. Geboren wird er im Jahr 1929 in Ludwigshafen als Sohn eines leitenden Angestellten der IG Farben. Seit seiner Kindheit, Jahrzehnte lang hält er penibel und emotionslos fest, was ihm widerfährt und wo er hinfährt. Erledigungen, Arztbesuche, Ausflüge mit den Eltern, alles schreibt er auf, fertigt Listen der besuchten Kinofilme an und führt Buch über seine Ausgaben. Weil er diese Aufzeichnungen nicht wegwerfen kann – es könnte etwas Entscheidendes verloren gehen! – gelangen sie nach seinem Tod Anfang der 1990er Jahre in den Besitz von Billy Hutter. Dieser Schriftsteller bemüht sich seitdem, das Leben des Karlheinz zu rekonstruieren, nun legt er seine Erkenntnisse vor.

Das Buch wird zurecht landauf, landab gefeiert. Hutter schreibt witzig, klar und sensibel. Die Genrebezeichnung „Roman“ passt nicht wirklich, hier ist alles verbürgt und belegt. Mit der Lust am Absurden zeichnet Hutter Wohnungsgrundrisse, erstellt Diagramme über die Ausflüge der Familie ins Umland und wertet die vielen Listen von Karlheinz aus. So erfahren wir, dass sich dessen Ausgaben von 1967 bis 1978 auf 9972 Mark und 5 Pfennige belaufen haben. Solche exakten Angaben machen nur ratloser. Karlheinz ist schwer zu verstehen. Er hat weder Freunde, noch Interessen. Gefühle, Wünsche oder Hoffnungen tauchen in seinen Notizen nicht auf. Je mehr Details wir erfahren, umso stärker spüren wir den horor vacui.

„Die Normen, die ihn umgeben, bejaht er“, schreibt Hutter. „Mit dem Vater gleichzuziehen, mitzumachen, das ist das Ziel.“ Karlheinz ist dazu allerdings nicht in der Lage, zu unbegabt, zu gehemmt. Ein Querulant und Neurotiker, auf seinen Vorteil bedacht, kleinen Betrügereien nicht abgeneigt. An einem Chemiestudium scheitert er, erleidet 1963 einen „Nervenzusammenbruch“ und wird für drei Jahre in einer Psychiatrischen Klinik untergebracht. Danach führt er ein unauffälliges Leben als Chemielaborant. Als die Eigentumswohnung nach dem Tod seiner Eltern verloren zu gehen droht, stirbt er, mutmaßlich durch einen Suizid. Dieses Leben wirkt fremd, wie aus einer anderen Epoche. Heute ist alles auf Aktivierung, Motivierung, Produktivierung ausgerichtet. Karlheinz' Leben verrinnt einfach. Niemand verlangt von ihm, ein vollständiges Subjekt samt Innerlichkeit, Geschichte und Begierden zu sein. Gehorsam reichte damals schon eine ganze Strecke.

Die Formulierung „ein Spießerleben mit Abgründen“ ist zu abgegriffen und führt in die Irre. Es geht dem Autor gerade nicht darum, sich über einen Freak wider Willen lustig zu machen. Verstörend an Karlheinz ist nicht der Kontrast zwischen spießiger Fassade und abgründigem Innen- und Privatleben. Trotz seiner zweifellos vorhandenen Eigentümlichkeiten ist vieles an ihm durchschnittlich. Das Spießertum an sich ist der Abgrund, auch ohne verborgene, verheimlichte Perversion.

Nun verhält es sich mit Abgründen bekanntlich so, dass sie in uns zurückschauen, wenn wir zu lange hinein starren. „Karlheinz“ handelt auch von unserem Blick auf den Spießer, damit von uns selbst. „An diesem Abend entwerfe ich vor euch ein >er< und ein >wir<, Pol und Gegenpol“, erinnert sich Billy Hutter an eine Lesung. „Zwischen ihm und uns besteht keine Verwandtschaft.“ Aber die subkulturelle Identität ist brüchig geworden und damit auch der Sicherheitsabstand zu den Karlheinzen dieses Landes. „Uns verbindet der Musikgeschmack, die Kleidung, die Kneipe (kultureller Dissenz), der gleiche unsichere Blick auf die Welt. Wir haben, die Zeit ist vorbei, von Woche zu Woche gelebt. Es ist eine Szene, die sich zu verlaufen beginnt, bereit zum Absprung in die Metropolen, in Beruf und Familie.“ Was macht einen zum Spießer? Will ich oder muss ich draußen bleiben? Wer „Karlheinz“ gelesen hat, denkt darüber anders nach.

Billy Hutter (2015) Karlheinz. Berlin: Metrolit.

 

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