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Monsieur Islam n’existe pas
Steht der Westen im Kampf gegen eine rückständige islamische Kultur? Drei neue Bücher räumen mit dieser Vorstellung gründlich auf.
"Wenn es Veränderungen kommt, werden sie von oben, also von Staats wegen, eingeleitet. Sie sind administrativ, obrigkeitlich und nehmen gegenüber der Bevölkerung Züge der Unterwerfung an." So beschrieb Dan Diner vor zwei Jahren den Nahen Osten und bescheinigte der Region von der Türkei nach Ägypten und Afghanistan, inklusive des Iran, vormoderne Verhältnisse. Er konnte so unterschiedliche Länder nur deshalb zu einem "Kulturkreis" zusammenzuzwingen, weil es sich bei seinem Buch Versiegelte Zeit um eine historisch-philosophisches Traktat handelt, das die Krise dieser Region aus ihrer Religion erklären will. Denn, so Diner, anders als im Westen bestimme dort noch heute "das Sakrale" das Alltagsleben der Massen; dem Islam fehle eine wirksame Religionskritik und Aufklärung.
Für die französischen Bevölkerungswissenschaftler Emmanuel Todd und Youssef Courbage sind solche Analysen nichts als "pseudowissenschaftliche Exegesen". Anhand einer "groß angelegten demografischen Analyse" versuchen sie zu belegen, dass die Moderne längst Einzug in die muslimisch geprägten Länder gehalten hat. Der wesentliche Grund dafür sei der steigende Bildungsstand, besonders die überall voranschreitende Alphabetisierung der Frauen: "Wo sie lesen und schreiben können, sinkt alsbald die Geburtenrate." Die "klassische arabische Familienstruktur" – die sich durch die "Verwandtenehe" nach außen abschottet und in der die verheirateten Söhne im Haushalt ihres Vaters zusammenleben – steht unter großem Druck. Überall verbreitet sich die Geburtenkontrolle, das steigende Bildungsniveau von Männern und Frauen erschüttert überkommene sozialen Hierarchien. Courbage und Todd zeichnen ein facettenreiches und faszinierendes Bild von diesem epochalen Umbruch (wenn auch gelegentlich mit einem groben Pinsel). Der Umbruch erfasst die verschiedenen muslimischen Länder ungleichzeitig, aber treibt überall in dieselbe Richtung. Der Übergang in die Moderne äußere sich als "Übergangskrise", deren politischer Ausdruck der Islamismus sei. Wenigstens mittelfristig aber stünden die Reaktionäre auf verlorenem Posten: "Der Fundamentalismus ist nur ein vorübergehender Aspekt eines in Bedrängnis geratenen Glaubens."
Aus anderer Perspektive, nämlich staatspolitisch, zerpflückt Olivier Roy alle Vorstellungen vom bevorstehenden Kulturkampf, deren Prototyp Samuel Huntington mit Clash of Civilizations 1996 lieferte. „Es gibt keine Geopolitik des Islam“, schreibt er bündig. Der Forschungsdirektor des französischen Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) schreibt im apodiktischen Stil, der einem Verfasser eines Standwerks (Der islamische Weg nach Westen aus dem Jahr 2006) zukommt. Ein weiteres Mal wird das völlige Scheitern der amerikanischen Intervention im Irak festgestellt. Dabei ist Roy durchaus kein schwärmerischer Multikulturalist oder "Souveränitätsfreund", im Gegenteil. Er beschreibt die internationalen Beziehungen illusionslos als Machtkampf, räumt aber auch mit einigen linken Mythen über Ziel und Absicht des Krieges auf. "Blut für Öl" sei keine taugliche Erklärung für das Verhalten der Bush-Regierung. Deren Fehler bestehe darin, dass sie Demokratien aufbauen wolle, wo noch nationale Fragen offen seien. Die Konflikte im Nahen Osten gehorchen keiner religiösen Logik, sondern sind Konkurrenzkämpfe zwischen Nationalitäten und Konfessionen, der sich in den letzten Jahren extrem verschärft hat.
Die "Neofundamentalisten" (Roy), die unter dem Namen Al Qaida firmieren, sind für den Autor die einzigen wirklichen Internationalisten; ihnen bedeutet Kaschmir so viel wie Palästina oder irgendein Kampfgebiet. Aber eben weil sie sich nicht über eine nationale und ethnische Sache definieren, fehlt ihnen die Verankerung in den Massen. Ihre Aktionen haben mit einem Guerilla-Krieg nichts zu tun, es geht ihnen nicht um die Eroberung eines Hinterlandes, sondern um das globale letzte Gefecht. Ihre millenaristischen Aktion stoßen mancherorts auf Sympathie, aber sie haben wenig Rückhalt. (Angeblich sind bis zu einem Viertel der Al Qaida–Terroristen Konvertiten.) Roy folgert: "Wir müssen aufhören, die Welt durch die Zerrbrille von Al Qaida zu betrachten, denn darin liegt ihre einzige Macht."
Nach den Anschlägen am 11. September 2001 vermehrten sich die "Nahostexperten" wie die Hasen. Arnold Hottinger ist einer, der diese Bezeichnung wirklich verdient. 1961 ging er für die Neue Zürcher Zeitung als Korrespondent nach Beirut, über drei Jahrzehnte schreib er über nahöstliche Politik. In Die Länder des Islam erzählt er detailliert, fast landeskundlich, deren Geschichte und beschreibt die lokalen Ausprägungen des "Einbruchs der Moderne". Gerade sie weckt ein Bedürfnis nach einer gesicherten Identität, das dem "politischen Islam" zugute kommt. Das "Westliche" ist ein Privileg der Oberschichten, während "das Eigene, Herkömmliche nur im Lebensstil der Erfolglosen bewahrt bleibt".
Der Innenminister ließ kürzlich die Demokratietauglichkeit der "Muslime in Deutschland" von Sozialwissenschaftlern prüfen, die sich auf die Kunst der Statistik verstehen. Wie sinnvoll das ist? Ob Todd und Courbage, Olivier Roy oder Arnold Hottinger – alle betonen sie, dass von einen einheitlichen Islam, gar einer aggressiv expandierenden „Zivilisation“ im Sinne Samuel Huntingtons, keine Rede sein kann. Der deutsche Politikwissenschaftler Bassam Tibi hat dies einmal auf die Formel "universeller Anspruch der Gemeinschaft der Gläubigen, Wirklichkeit der Stämme" gebracht. Von Anbeginn an habe diese Spannung die Geschichte des Islam geprägt. Wer Roys detaillierte Analysen über das verwirrende Geflecht von Loyalitäten und Ambitionen in Syrien, Iran oder Saudi-Arabien liest, dem wird schnell klar, dass heute keine andere Weltregion so gespalten ist in Konfessionen, ethnische Verpflichtungen, nationale Zugehörigkeiten und politische Richtungen. Arnold Hottinger zitiert dementsprechend eine algerische Autorin mit "Monsieur Islam n’existe pas". Lesenswert sind alle drei Bücher – und nützlich, um Klischees hinter sich zu lassen.
Olivier Roy: Der falsche Krieg – Islamisten, Terroristen und die Irrtümer des Westens. Berlin: Siedler.
Youssef Courbage / Emmanuel Todd: Die unaufhaltsame Revolution – Wie die Werte der Moderne die islamische Welt verändern. München / Zürich: Piper.
Arnold Hottinger: Die Länder des Islam – Geschichte, Traditionen und der Einbruch der Moderne. Paderborn: Ferdinand Schöningh.
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