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Die Freiheit, ein verirrtes Pferd
David Harvey erzählt die Geschichte des Neoliberalismus.

"Die Wirtschaft ist nur die Methode. Das Ziel ist es, die Seele zu verändern." Nicht gerade bescheiden beschrieb die britische Premierministerin Margaret Thatcher Anfang der 1980er Jahre ihr Projekt. Die Gesellschaft sollte umfassend umgestaltet werden, eine veritable Revolution gegen Sozialstaat, Gewerkschaftsmacht und Bürokratie stattfinden. Einige Jahre zuvor hatte, mit wesentlich gewalttätigeren Mitteln, Augusto Pinochet in Chile Ähnliches begonnen. Wirtschaftspolitisch beraten wurde er dabei von Schülern Milton Friedmans. 1981 wurde Ronald Reagan zum Präsidenten der USA gewählt und begann seinen langen, letztlich vergeblichen Kampf gegen das Haushaltsdefizit.
Erst später wurde für ihre Politik der Ausdruck "Neoliberalismus" gebräuchlich. Der Geograph David Harvey – einer der einflussreichsten kritischen Intellektuellen im angloamerikanischen Sprachraum – zeichnet nun in seiner "Kurzen Geschichte des Neoliberalismus" die Entwicklung bis heute nach. Seiner Ansicht nach ging es von Anfang an weniger darum, Reichtum zu schaffen als ihn vielmehr umzuverteilen. Mit detaillierten "Frontberichten" über Südkorea, Mexiko, Argentinien und Schweden entwickelt er "eine dynamische Karte der Neoliberalisierung", die deutlich macht, wie sich die neoliberale Politik von Land zu Land verbreitete. Dem China seit den Reformen Deng Xiao-Pings ab 1978 widmet er ein ganzes Kapitel, der interessanteste Teil dieses Buchs.
"Heute ist der Neoliberalismus zur herrschenden Denk- und Handlungsweise geworden", stellt Harvey fest. Auf der ganzen Welt verbreitet sind seine Werthaltungen fast zum common sense geworden. Etwas widerwillig räumt der Autor ein, dass das möglich war, weil er den Einstellungen und Interessen von Menschen aus allen Schichten entgegen kam. Werte wie Selbstbestimmung und Misstrauen gegen den Staat fanden sich schließlich spätestens seit den späten 1960er Jahren in der Linken wie der Rechten, und gerade einfache Arbeiter und Angestellte litten unter Inflation und Arbeitslosigkeit, deren Bekämpfung sich der Neoliberalismus auf die Fahnen schrieb.
Als wirtschaftspolitisches Konzept dagegen sieht die Bilanz schlechter aus, selbst am eigenen Maßstab gemessen: "In den 1960er Jahren lagen die jährlichen Wachstumsraten der Weltwirtschaft bei etwa 3,5 Prozent, selbst in den krisenhaften 1970er Jahren gingen sie lediglich auf 2,4 Prozent zurück." Heute liegt das globale Wachstum bei etwa einem Prozent, während die Ungleichheit der Einkommen geradezu explodiert ist. Das Hauptmerkmal des Neoliberalismus ist für Harvey die „Akkumulation durch Enteignung“: der Transfer von Reichtum über die Finanzmärkte beziehungsweise Profite durch Privatisierung und Vermarktung von Ressourcen aller Art. Diese Strategie könne aber nicht länger aufrechterhalten werden, schon weil sich Finanzkrisen häuften und verschärften.
Sein Leitmotiv borgt Harvey sich vom englischen Dichter Matthew Arnold, der einst sagte: "Die Freiheit ist ein gutes Pferd, aber man muss wissen, wohin man es reiten will." Harvey fordert, den Begriff der Freiheit nicht als Abbau von Handelsschranken zu begreifen, sondern beispielsweise als soziale "Freiheit von Not und Angst". Folgt man seiner Analyse, sieht es jedenfalls so aus, als ritte das neoliberale Pferd pfeilgerade auf den Abgrund zu.

David Harvey (2007) Kleine Geschichte des Neoliberalismus. Aus dem Englischen von Niels Kadritzke. Zürich: Rotpunktverlag.

 

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