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(Junge Welt, Juli 2008) „Woher kommen all die Leichen?“ Vielleicht hatten sich die schwedischen Gefangenen zu ihrer Flucht von Becketts Geschichte inspirieren lassen. Nur entschlossen sie sich, anders als dessen Figuren Wladimir und Estragon, die Sache lieber in die eigenen Hände zu nehmen, anstatt noch länger auf den Befreier Godot zu warten. "Also? Gehen wir?" – "Gehen wir." Selten ist "Warten auf Godot" zu so klarer Nutzanwendung gebracht worden. Die Kritik einigte sich ab 1953 schnell auf eine metaphysische Lesart jener Geschichte ohne Handlung. Die beiden Männer, die da vergeblich auf einen mysteriösen "Godot" warten, stünden sinnbildlich für den „modernen Menschen“, der wie sie auf einen Erlöser warte, von dem er sich nicht einmal mehr eine rechte Vorstellung machen könne. Der Titel wurde zu einem Sprichwort für vergebliche Liebesmüh, und die Geschichte zu einem Klassiker des sogenannten "absurden Theaters". In den 50er Jahren spielten die Theaterstücke Becketts oder Eugène Ionesco dann eine ähnliche Rolle wie der „abstrakte Expressionismus“ des Malers Jackson Pollocks an der kulturpolitischen Front im Kalten Krieg: Der Westen reklamierte die Freiheit zum formalen Experiment für sich, die Künstler bezahlten mit der Freiheit von Sozialkritik. Das „Theater des Absurden“ entsprach der Verzweifelung des "Menschen an sich" über sich selbst, eines der vielen Zimmer im Grand-Hotel Abgrund – sind wir nicht alle ein bisschen Wladimir und Estragon? Vierzig Jahre nach der Uraufführung zeigt nun der französische Theaterkritiker Valentin Temkine, dass wenigstens „Warten auf Godot“ durch eine ganz bestimmte historische Situation angeregt wurde und im politischen Engagement Samuel Becketts wurzelt. Der kämpfte bekanntlich in der französischen Résistance gegen die deutschen Besatzer. „Die Nazis widerten mich so an, insbesondere wie sie die Juden behandelten, dass ich einfach nicht mit die Hände in den Taschen dabei zusehen konnte.“ Temkine zeigt, dass die Nicht-Geschichte keineswegs im Nirgendwo (und deshalb überall) verortet ist, sondern sich 1943 im südfranzösischen Roussillon zuträgt, wo zwei Juden auf der Flucht vor den Deutschen und Kollaborateuren auf einen Schleuser namens Godot warten, der sie über die Grenze nach Italien bringen soll! Die beiden sind verängstigt und erschöpft, entsprechend sprunghaft ihre Unterhaltung, entsprechend bitter ihr Humor. Das ist eine gewagte Interpretation, die sich aber auf viele Textstellen stützen kann. Die Protagonisten "Estragon" und "Wladimir" beispielsweise hießen im Originalskript "Monsieur Albert" und "Lévy", bis Beckett ihre Namen änderte. Valentin Temkine und andere, darunter seine Frau Raymonde und sein Enkel Pierre, erläutern die neue Lesart in einer nun erschienen Übersetzung. Die Herausgeber und Autoren legen so eine verzweifelte historische Situation offen, die aber mit allgemeinem und unverbindlichem Weltschmerz nichts zu tun hat. Wie wohl die erste Inszenierung in ihrem Sinne aussehen wird? Allerdings überschätzen sie die Bedeutung ihrer Entdeckung. Schließlich hat Samuel Beckett die Spuren bewusst und willentlich verwischt. Darin ging er so weit, dass er sogar zustimmte, die Ortsangaben in der deutschen Ausgabe des Stückes in den Breisgau zu verlegen. "Warten auf Godot" bleibt ein theologisches Vexierspiel, hinter dessen metaphysischem Sinn sich ein historischer verstecken mag – aber das war dem Autor wohl selbst nicht klar. "Woher kommen all diese Leichen?", fragt Wladimir an einer Stelle des Stücks. Es sind die Leichenberge, die Weltkrieg und Shoah aufgehäuft haben. Viele Interpreten, darunter Theodor W. Adorno, haben das bereits mehr oder weniger eindeutig empfunden. Valentin Temkine weist es regelrecht nach. Pierre Temkine (2008) Warten auf Godot: Das Absurde und die Geschichte. Berlin: Matthes und Seitz.
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