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Mike Davis: Vogelgrippe. Zur gesellschaftlichen Produktion von Epidemien

1997 warnen die Experten der Weltgesundheitsorganisation vor dem Ausbruch einer tödlichen weltweiten Grippewelle. Nun scheint unvermeidbar, dass der Vogelgrippevirus die Gattungsgrenze zwischen Vogel und Mensch überspringen und sich zur Pandemie ausweiten wird. Dann wird deutlich werden, wie eng der gesellschaftliche Zwangszusammenhang wirklich ist, dass über die weltweiten Produktions- und Konsumketten ein vietnamesischer Vertragsbauer mit dem Kioskbesitzer in Frankfurt zu tun hat. So ist es bei jeder Epidemie: der Virus überwindet die Klassenschranken, eine Pandemie tut das weltweit. Die unvermeidliche Ansteckung dementiert die liberale Behauptung von der Unabhängigkeit der Individuen. Schon der Bürger Edgar Allen Poe berichtet in seiner Geschichte "Die Maske des roten Todes", wie der Versuch der Reichen und Mächtigen scheitert, mit den Armen auch die Pest auszuschließen: Auf dem Höhepunkt der Party zeigt sie sich mitten unter den Gästen.
Nun macht aber, entgegen einem verbreiteten Vorurteil, auch der Tod die Menschen nicht gleich. Mike Davis, marxistischer Historiker aus den USA, zeigt in seiner materialreichen Analyse über die „gesellschaftliche Produktion“ der Vogelgrippe unter anderem, wo das große Sterben stattfinden wird: in den Slums der Megastädte in Afrika und Asien, dort, wo Menschen dicht beieinander leben, wo die sanitären Anlagen und die medizinische Versorgung schlecht sind. Apokalyptiker sind ermüdend, und die Bevölkerung scheint zu beschäftigt, um panisch zu werden. Auch Davis stellt seiner Analyse ein alttestamentarisches Zitat voran, aber ihn interessiert, wie Regierungen und Pharmaindustrie sich immer wieder als unfähig erweisen, gegen die Krankheit vorzugehen. So wird Tamiflu, das einzige wirklich effektive Medikament, von La Roche in einer einzigen Fabrik in der Schweiz hergestellt; und während sich westliche Staaten bevorraten, geht der Trikont leer aus. Impfstoffe sind für die Pharmaindustrie kein gutes Geschäft, deshalb investiert sie nicht in Forschung und Produktion.
Verständlich, wenn auch unter gelegentlichen Wiederholungen, erklärt er die biologischen Grundlagen der Vogelgrippe, analysiert die fatale Rolle der industriellen Fleischproduktion und fasst die Geschichte der Influenzabekämpfung seit der Spanischen Grippe 1918 zusammen. Damals starben, nach unterschiedlichen Schätzungen, zwischen einem und fünf Prozent der Weltbevölkerung – eine so ungeheuerliche Zahl, dass sowohl die persönliche Erinnerung als auch die Geschichtsschreibung sie zur Kenntnis nahmen. Nach dem 2. Weltkrieg starben über die Hälfte der 22 Millionen Opfer in Indien: „Armut, Unterernährung, chronische Krankheiten und Koinfektionen“, schreibt Davis, hatten die Infizierten geschwächt. Diesmal könnte die Zahl der Opfer, sowohl relativ als auch absolut, noch größer sein, nicht nur, weil die Evolution des Virus ihn stärker gemacht hat, sondern weil die gesellschaftlichen Bedingungen es ihm so leicht machen.

Mike Davis (2005) Vogelgrippe: Zur gesellschaftlichen Produktion von Epidemien. Berlin / Hamburg: Assoziation A.

 

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