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Viel Alltag, kurz vorm Reptilienzeitalter
In seinem neuen Roman "Dirac" stellt Dietmar Dath die Frage nach dem besseren Leben unter den gegebenen Bedingungen.
"Die Sowjetunion ist weg, Punk ist Retrochic, die Besiedlung des Alls eine Computeranimation, die RAF Kunstgeschichte, die Vernunft ist das, was ein Anlageberater benutzt, um die aussichtsreichsten Fondspakete zu schnüren, die Liebe hat Aids..." Betrunken vom Whiskey, den sein Freund Paul ihm reichlich einschenkt, zieht David Bilanz. Aufgewachsen sind er und seine Freunde im Süddeutschland der 70er Jahre, was ist aus ihnen geworden? Als Arzt, Künstlerin oder Computerprogrammierer sind sie beruflich erfolgreich, arbeiten hart, sind desillusioniert, aber noch nicht zynisch. David selbst – das kaum verhüllte alter ego des Autors – ist Schriftsteller und Journalist. Ein paar Tage zuvor hat Paul zu erklären versucht, was sie antreibt: "Wir waren ja alle linksradikal damals, und jetzt haben wir das nicht einmal für Geld und Ruhm eingetauscht, sondern einfach keine Zeit mehr, weil wir uns irgendwie durchwurschteln müssen."
Lenin empfahl Revolutionären, sich in nicht – revolutionären Zeiten in Geduld und Theorie zu üben. David, obschon längst „kontemplativer“ statt aktiver Kommunist, ist das zu wenig. Schon währenddessen, was üblicherweise „schlimme Kindheit“ genannt wird, suchte er eine Lebenshaltung, die als Vorbild taugen kann. Das erste Modell fand er in seinem Schulfreund Paul. Während David meist nur in Gedanken handelt, ist der ein Tatmensch, einer, der „handelt, um denken zu können“. Zwanzig Jahre später bewundert David ihn immer noch. Vergeblich versucht er, eine Biographie über den britischen Physikers Paul Dirac zu schreiben. Diesen Wissenschaftler, der als erster die Existenz von „Antimaterie“ postulierte und dafür 1933 einen Nobelpreis bekam, wird zu seiner nächsten Orientierungsfigur.
Dietmar Dath, ehemaliger Redakteur der Zeitschrift Spex, ist alles andere als ein privatisierender Popliterat. In seinem neuen Roman "Dirac" geht es um die ganz großen Fragen, um Theorie und Praxis, um privates Glück und Menschheitskatastrophe. Daths Stil ist eher argumentierend als erzählerisch, die Beschreibungen nicht besonders dicht, aber glaubwürdig. Seine Geschichte entfaltet sich auf mehreren Ebenen: die gemeinsame Schulzeit, die Gegenwart und schließlich die biographische Phantasie über den Wissenschaftler. Der vereinbarte laut Dath vorbildlich „das Problem von Reduktion und Irreduzibilität“ – einerseits vereinfachen zu müssen, um handeln zu können, andererseits die Methoden und Theorie nicht zum Dogma zu machen, sondern vorläufig und diskutierbar halten.
Dieser Roman ist einiges gleichzeitig: autobiographische Selbstbefragung, Science Fiction und ästhetisches Experiment, angereichert mit viel moderner Physik. Durch mehr oder weniger aufdringliche Rezeptionsvorschriften versucht der Autor, mögliche Missverständnisse zu vermeiden. Vielleicht hätte Dietmar Dath eher zwei Bücher aus dem hier angehäuften Material machen sollen, aber großartig macht "Dirac" seine Entschlossenheit, die Probleme des Freundeskreises um David so wahrhaftig zu schildern, dass viele Leser sie als die ihren erkennen werden.
Das drängendste darunter ist wohl das neue „Reptilienzeitalter“. In einem von ihm selbst im Internet veröffentlichten Interview heißt es: "Was, wenn Bewusstsein und Intelligenz irgendwann nicht mehr zur evolutionär stabilen Strategie unserer Gattung dazugehören?" Die Gefahr des Aussterbens muss mitbedacht werden, weil David und seine Freude gegen sie so machtlos sind wie wir alle, und trotzdem glücklich werden wollen, so wie wir alle. Unversehens rutscht der Rezensent in die 1. Person Plural – so etwas macht "Dirac" mit einem.
Allerdings lässt sich auf Daths Frage, derart abstrakt formuliert, natürlich kaum etwas antworten. Die Unvernunft regiert und treibt die Erde vor sich her auf den Abgrund zu, „Bewusstsein und Intelligenz“ haben ihr gewaltige und gefährliche Machtmittel an die Hand gegeben. Wie kann sich Intelligenz gesellschaftlich geltend machen? Wenn wir den Wettbewerb mit den Echsen noch gewinnen wollen, sollten wir schnell provisorische Antworten finden.
Dietmar Dath (2006): Dirac. Roman. Suhrkamp: Frankfurt.
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