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Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich
"Die unbestrittene Vorherrschaft des weißen Mannes geht dem Ende entgegen, Europa steht vor dem Niedergang, denn in Asien entsteht ein neues Weltreich!" – kein Zeitungsartikel von letzter Woche, sondern die vorherrschende Meinung der deutschen Publizistik vor über hundert Jahren! „Große Hoffnungen auf den chinesischen Markt und zugleich die Sorge vor einer >Überflutung< mit Chinesen", die "Gelbe Gefahr", waren damals weitverbreitet, schreibt Sebastian Conrad in "Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich". Schon dieser Titel hat denselben verwirrenden Effekt: das Modewort Globalisierung soll seit cirka 1880 gewirkt haben. Viele Stellen in diesem Buch erzeugen ein déjà-vu, beispielsweise die Beschreibung von Kampagnen, die argumentativ der Aktion "Kinder statt Inder" zum Verwechseln ähnlich sehen.
Offenbar ähnelt unsere Zeit in einigem der hochimperialistischen Epoche, denn schon damals wurde der Weltkrieg angeblich im Kreissaal ausgefochten und Anzahl und Gesundheit der Staatssubjekte sollten die internationale Konkurrenz entscheiden. Das Kaiserreich war nicht nur eine verschrobene Pickelhauben-Provinz, sondern, in der Diktion der Zeit, eine "weltpolitische Macht". Kernthese des Berliner Historikers ist, dass der deutsche Nationalismus nur als Reaktion auf internationale Vernetzung und Mobilität begriffen werden kann: "Nationalisierung und Globalisierung waren nicht zwei Etappen einer konsekutiven Entwicklung, sondern bedingten sich gegenseitig." Besonders die massenhafte Migration forderte die Nation zu ideologischen und institutionellen Reaktionen heraus. Ob an der Grenze zu Polen, in den kolonialen Besitzungen und gegenüber der deutschsprachigen Diaspora, was Deutschland war und ist, konstituierte sich erst in der Auseinandersetzung mit dem Fremden und Feindlichen.
Ein wesentlicher Topos in den Debatten über die Nation war die spezifisch "deutsche Arbeit". Sie galt immer auch als „Kulturleistung“; der Begriff richtet sich sowohl gegen utilitaristische Konzepte als auch gegen den angeblich geistlosen Fleiß von Asiaten und Juden. Der Autor zeigt, wie er eine immer rassistischere Färbung erhält. "Die Rassenpolitik des Nationalsozialismus lässt sich aus den Diskussionen des Kaiserreichs nicht linear ableiten. Gleichwohl erscheint sie als unheimlicher Fluchtpunkt einer Entwicklung, für die die koloniale Erfahrung möglicherweise eine unverzichtbare Etappe bildete."
Conrads Untersuchung orientiert sich an den postcolonial studies. Deren sympathischer Versuch, die Objekte der Kolonialpolitik – die Massen Asiens, Afrikas und Südamerikas – wenigstens nachträglich als handelnde und denkende Menschen zu beschreiben, ist hierzulande immer noch ein wenig exotisch. Leider übernimmt er dieser Tradition auch die enervierende Manie, konkrete Beobachtungen in die allgemeinsten Begriffspaare wie "Identität und Alterität" oder "Raum und Zeit" aufzulösen. Außerdem beschränkt sich die Untersuchung auf Debatten in der bürgerlichen Öffentlichkeit. Fruchtbarer wäre die Frage gewesen, wie denn die deutschen Mittel- und Unterschichten über den Anbruch der Weltgesellschaft dachten.
So bleibt die Abwendung von den Haupt- und Staatsaktionen auf halbem Weg stecken bei den Auslassungen von Intellektuellen wie Max Weber. Im Kontext der Kolonialgeschichte aber sind die aufschlussreich genug. Indem Conrad die Verbindungen vom Kampf gegen „Arbeitsscheue“ in der Heimat mit der Kolonialpolitik aufzeigt, leistet er einen interessanten materialistischen Beitrag zur Diskussion, was den Sonderweg Deutschlands ausmacht.
Sebastian Conrad (2006) Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich. München: C. H. Beck.
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