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(Junge Welt, 14. 8. 2008)

"Der Weise hat keine Grundsätze."

"Ich handle nicht, und das Volk wandelt sich von selbst!" Sechs Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung riet in China der legendäre Laotse von allem Engagement ab. Auch Bertholt Brecht wäre bekanntlich gerne weise gewesen. "In den alten Büchern steht, was weise ist / Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit / Ohne Furcht verbringen / Auch ohne Gewalt auskommen / Böses mit Gutem vergelten / Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen." Wirklich, besser als diese Verse aus dem Gedicht "An die Nachgeborenen" lässt sich der Taoismus, die Lehre Laotses, nicht zusammenfassen.
Stellen wie diese belegen für den Germanisten Heinrich Detering, wie stark Bertholt Brecht von dem chinesischen Weisen beeinflusst wurde. Wie Klabund oder Alfred Döblin lernte Brecht dessen Sprüchesammlung "Taoteking" in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg kennen, als Laotse unter den Expressionisten und anderen Empfindsamen sehr in Mode war. Sie begeisterten sie für seine "fernöstliche Weisheit", in der sie sowohl Extase als auch Askese fanden, eine gänzlich diesseitige Religion ohne Paradiesversprechen oder Höllendrohung und damit einen ästhetischen Ersatz für ein schal gewordenes Christentum. Ob der alte Weise wirklich existierte, ist unklar; die Lehre jedenfalls, die ihm zugeschrieben wird, ist konsequent: Nichts bleibt, wie es ist. Kein Widerstand ist dem Strom des Lebens gewachsen. Ihm gilt es nachzugeben, statt gegen ihn anzukämpfen, wie das Wasser zu werden, das mit der Zeit der mächtigen Stein besiegt.
Heinrich Detering zeigt, dass Brecht in allen Schaffensperioden taoistische Motive aufgriff. In einem Gedicht der späten "Buckower Elegien" etwa zeigt sich das biegsame Holz dem Eisen überlegen; der Held des Theaterstücks "Mann ist Mann" von 1926 zitiert unvermittelt Laotse – nur zwei Beispiele von vielen. Der Kommunist als Mystiker? Kaum. Der junge Brecht nahm die Lehre aus Fernost auf, aber sicher nicht ganz ernst, wenigstens nicht wörtlich. "Laotse stimmt mit mir überein", notierte der Zweiundzwanzigjährige in sein Tagebuch, nicht umgekehrt wohlgemerkt. Was Brecht zu Laotse zog, war ohnehin nicht Ontologie, sondern Ethik, nicht die Weltanschauung, sondern die Ratschläge für ein gutes Leben. "Der Weise hat keine Grundsätze!", sagt Brecht, und Laotse stimmt ihm auch hierin zu: Prinzipien taugen nicht für diese Welt. Das taoistische "Handeln durch Nicht-Handeln" taugte als Gegenkonzept zum Heldentum germanischer Prägung, das noch der Augsburger Schüler in nationalistischen Hymnen feierte, um dann ziemlich schnell zur Vernunft zu kommen. Der "Brecht’sche Taoismus" (Detering), nur eine Strömung im eklektischen Denken des Dichters, der auch darin vorbildlich prinzipienlos blieb.
Bertholt Brechts ganzes Werk umkreist die Problematik des politischen Engagements. Die Welt ist nicht gut eingerichtet, Güte wird in ihr bestraft. Das Richtige ist das Falsche, gerade deshalb muss die Gesellschaft geändert werden. Aber wie, ohne sich idealistisch und wirkungslos zu opfern, auch ohne eine Gewaltherrschaft nur durch eine andere zu ersetzen? "Versinke in Schmutz / Umarme den Schlächter, aber / Ändere die Welt: sie braucht es", heißt es in "Die Maßnahme". Und im Gedicht "An die Nachgeborenen" folgt auf die sehnsuchtsvolle Beschreibung eines guten Lebens entsprechend der taoistischen Weisheit die bündige Feststellung: "Alles das kann ich nicht."
Detering nennt Brechts Auseinandersetzung mit Laotse zutreffend „eine Grundspannung, die sein Schreiben über Jahrzehnte hin untergründig mitbestimmt und die gerade im nie ganz gelungenen Versuch der Auflösung fruchtbar geworden ist“. Sie aufzulösen ist ihm auch als engagierter Schriftsteller „nie ganz gelungen“. „Ich habe kein Rückgrat zum Zerschlagen!“, verteidigt Herr Keuner in der berühmten Parabel seine Feigheit gegenüber der Gewalt. Brecht hat mit dieser Devise nicht immer eine gute Figur abgegeben: Ob 1947 vor dem "Komitee gegen unamerikanische Aktivitäten" oder nach dem Aufstand am 17. Juni 1953, seine "unerbittliche Nachgiebigkeit" gegenüber der Niedertracht ähnelte oft eher einem vorauseilenden und sogar überflüssigen Gehorsam.
Aber die Spanne von Laotse zu Lenin (und zurück) zu durchmessen, ohne je das Dilemma des Engagements zu leugnen, zeichnet Brecht unter den deutschen politischen Schriftstellern aus. Bei aller Parteilichkeit ließ er sich niemals verbieten, bei welchen Denkern man sich bedienen darf. Die Fragen, die seine Arbeiten stellen, sind nie nur rhetorisch. So "neu und überraschend", wie der Klappentext verspricht, ist Deterings Interpretation nicht. Aber seine Untersuchung sollte denjenigen zu denken geben, die den Dichter für ihr Flugblattweltbild zu missbrauchen versuchen.

Heinrich Detering (2008) Bertolt Brecht und Laotse. Göttingen: Wallstein.

 

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