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Nutzen und Nachteil
Über Das alternative Milieu
(KONKRET Februar 2011)
"Depressiver, sensibler, fast total geschaffter Typ sucht zum Aufbau einer längerfristigen fruchtbaren Zweierbeziehung verständnisvolles weibliches Wesen." So lautete die erste, stilbildende Kontaktanzeige, die im Frankfurter Pflasterstrand anno 1977 veröffentlicht wurde. Ob sich wohl eine fand, die verständnisvoll genug war? Das ist nicht überliefert, dafür enthält der Sammelband "Das alternative Milieu", in dem ich auf diesen kurzen Text stieß, statistische Auswertungen von Kontaktanzeigen aus zehn Jahrgängen (!) der Berliner Zitty und des Pflasterstrands. Seit ungefähr fünf Jahren sind die Kultur und Politik der Neuen Linken in Deutschland zu einem regelrechten Modethema der historischen Forschung geworden. "Das alternative Milieu" bietet einen guten Überblick über den gegenwärtigen Erkenntnisstand – was wissen wir eigentlich über die 70er Jahre?
Es geht um "antibürgerlichen Lebensstil und linke Politik" zwischen 1968 und 1983, um Alternativurlauber, Umweltschützer, Friedensbewegte, Heroinabhängige, Emanzen und Sektenheinis, die alle, etwas brachial, zum "alternativen Milieu" zusammengefasst werden. Die Haltung der Autorinnen und Autoren zu ihrem jeweiligen Gegenstand reicht von sympathisierend über abgeklärt bis denunziatorisch.
An dieser Stelle ein notwendiges kurzes Geständnis in eigener Sache: Auch ich wurde als Junge durch die Hintertür in die Küche des Frauencafés geschleust, um nach der Schule mein Mittagessen zu kriegen. Auch meine Eltern wollten mir weismachen, dass Körner essbar sind. „Europa hatte zweimal Krieg, der nächste wird der letzte sein“, sangen die Bots aus dem Kassettenrecorder, und ich verbrachte meine Tage in Angst und Schrecken vor dem bevorstehenden Atomkrieg. In den Ferien fuhren wir in eine Landkommune, und meine Mutter schärfte mir vorher noch einmal ein, sie ja mit dem Vornamen anzusprechen. Nun bin ich unversehens zum Objekt der historischen Forschung geworden, zu einem Zeitzeugen, der aber nach seiner Meinung nicht gefragt wird. Vielleicht ist das besser so. Schließlich neigen wir Zeitzeugen notorisch zur Verklärung und Glättung der Widersprüche. Die Historisierung der Linksalternativen hat ihren Nutzen – dort, wo sie aufzeigt, was wir uns nicht ohnehin schon gedacht haben.
Da wäre zunächst der schiere Umfang der Szene. Die Auflage der diversen Alternativzeitungen belief sich im Jahr 1980 zusammengenommen auf 1,6 Millionen Exemplare! Laut einer zeitgenössischen Erhebung waren zu dieser Zeit 80.000 Menschen in 11.5000 alternativen Projekten aktiv, vom Bauernhof über den Kinderladen bis zur Bürgerinitiative. In den Projekten sollte die sexistische Arbeitsteilung ebenso aufgehoben werden wie die Trennung von Produktion und Reproduktion und die von Hand- und Kopfarbeit. 1986 war die Zahl der Aktiven auf 200.000 gewachsen. Weil sie in gewisser Weise den Kern des Alternativmilieus darstellten, lässt sich die Größe des Milieus samt Sympathisanten durchaus auf etwa eine Million Menschen schätzen. Sie stammten entgegen einem verbreiteten Klischee keineswegs alle aus bürgerlichen Elternhäusern. In seinem Beitrag zeigt Michael Vester, dass gerade die Kinder von Facharbeitern und Kleinbürgern eine wichtige Rolle spielten. Seine soziologische Analyse belegt, dass sie im Konflikt mit ihren Eltern keine neue Werte und Normen schufen, sondern diesen Haltungen vielmehr eine neue zeitgemäße Form verliehen.
Von Nachteil ist die Historisierung, sofern sie das Bedürfnis der Gegenwart bedient, auf die Vergangenheit herabzuschauen und ihren Gegenstand auf ihr eigenes Niveau herunterbringt. Als irgendwie Dabeigewesener hab ich da so meine Schwierigkeiten damit. "Wer zwingt euch zu richten?" fragt Nietzsche. "Und dann – prüft euch nur, ob ihr gerecht sein könntet, wenn ihr es wolltet! Als Richter müsstet ihr höher stehen, als der zu Richtende; während ihr nur später gekommen seid." Die Vergangenheit gilt als Entwicklungsstufe hin zum heutigen Zustand, als Etappe der Modernisierung. Im Fall der westdeutschen Linken bedeutet das: die Freaks, Emanzen und Spontis von damals werden eingereiht in die nationale Heils- oder wenigstens Erfolgsgeschichte.
Zu diesem Zweck müssen die Historiographen mit den historischen Akteuren allerdings ziemlich rabiat umgehen. "Die mit der Jahreszahl 1968 verbundene kulturelle Revolte war im Kern nicht antikapitalistisch, sondern die unfreiwillige Avantgarde der modernsten Erscheinungsformen der kapitalistisch organisierten Konsumgesellschaft", erklärten Stephan Malinowski und Alexander Sedlmaier vor fünf Jahren in einem Aufsatz in Geschichte und Gesellschaft. Fast alle, die sich heute mit der linksalternativen Szene von damals beschäftigen, bescheinigen ihr eine Art Selbstmissverständnis: Die zeitgenössische Rede von Kollektivität, einer anderen Gesellschaft etc. soll nur die rhetorische Oberfläche gewesen sein, unter ihr verborgen ganz andere Bedürfnisse, die – Überraschung! - heute sämtlich erfüllbar sein sollen. Die historische Aufarbeitung der linken Kritik ist nämlich entschieden unkritisch.
Dass die 68er einen „Modernisierungsschub“ ausgelöst hätten, gehört mittlerweile ja zu den Allerweltsweisheiten. (Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass sie vielfach eher der Ausdruck als der Antrieb des kulturellen Umbruchs waren.) Aber während „1968“ immer noch für echte Empörung und eifrige Renegaten sorgt wie Gerd Koenen, Wolfgang Kraushaar oder Götz Aly, mobilisiert das linke Milieus der späteren Jahre mehr Amüsement als Wut. Für Polemiker sind die Alternativen der 70er und 80er ein leichtes Opfer, umso mehr, je mehr sich im Lauf der Zeit ihre rebellischen und utopischen Impulse erschöpften. Den gängigen Jargon der Innerlichkeit und den Kult eines "authentischen" Lebens fanden schon damals viele (Linke) lächerlich.
Und dennoch, die angebliche "Zivilisierung" Deutschlands soll ihnen eine Menge verdanken – laut den Herausgeber von "Das alternative Milieu", unter anderem "die Problematisierung des Geschlechterverhältnisses", "die Etablierung weniger autoritärer Arbeits-, Erziehungs- und Lebensverhältnisse, die Wertschätzung für kleine und überschaubare Strukturen", "neue zivilgesellschaftliche Formen politischer Partizipation, das Umweltschutzbewusstsein, Formen nachhaltiger städtischer Wachstums- oder Wohnpolitik", "eine qualitative Wachstumsorientierung". Herrlich weit haben wir es gebracht.
Sven Reichhardt / Detlef Siegfried (2010) Das alternative Milieu: Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa. Göttingen: Wallstein Verlag.
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