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(Junge Welt)

Trauerarbeit

Als die Außenminister Ribbentrop und Molotow am 24. August 1939 den Vertrag unterschrieben, wehte vor dem Moskauer Kreml die Hakenkreuzfahne und eine Kapelle spielte das Horst-Wessel-Lied. In dem Nichtangriffspakt hatten die beiden Staaten ihre Einflusssphären abgesteckt, sich gegenseitig ihrer Neutralität versichert, der nächste Krieg war nur noch eine Frage der Zeit. Erst konnten die aus Deutschland geflohenen Antifaschisten es nicht glauben, dann wollten sie es nicht. Im französischen Exil brachte Walter Benjamin ihre Situation auf den Punkt: Die Politiker, auf sie gehofft hatten, lagen am Boden und bekräftigten ihre Niederlage mit dem Verrat an der eigenen Sache. Wer noch loyal bleiben wollte, musste Zuflucht zu einer bemerkenswerten Rechtfertigungskasuistik nehmen (die von manchen bis heute betrieben wird). Für die Kommunistinnen und Kommunisten brach eine Welt zusammen.
Bis heute ist sie nicht wieder errichtet worden, argumentiert Bini Adamczak. In ihrem neuen Buch Gestern morgen nimmt sie diesen historischen Moment als Ausgangspunkt: den moralischen und politischen Tiefpunkt der an Niederungen bekanntlich nicht armen kommunistischen Geschichte. Denn die „nichtfeindliche Politik gegenüber den Deutschen“ (Georgi Dimitroff) bedeutete auch, dass zahlreiche Flüchtlinge von der Sowjetunion an Deutschland ausgeliefert, der Gestapo gleichsam zum Geschenk gemacht wurden: "Um die tausend Abgeschobene sind es, die in den Akten der Botschaften und Geheimdienste dokumentiert sind, von ihnen nachweislich über 300 Kommunistinnen, Jüdinnen, Antifaschistinnen", schreibt Adamczak.

Von Verrat und Niederlage

Wie konnte es soweit kommen? Die Autorin geht in der Geschichte zurück bis zur Oktoberrevolution, beschreibt die Entwicklung der KPDSU, den Aufstand von Kronstadt, das letztliche Scheitern der revolutionären Erhebungen in Europa, die Vorstellungs- und Gefühlswelt der Kommunisten – nicht um die Katastrophe zu erklären, sondern um die Hoffnungen der Kommunisten zu bergen, sie wieder plausibel zu machen.
Die historischen Bedingungen in der SU thematisiert Adamczak nur im Vorübergehen. Ihr Anliegen ist nicht analytisch, sondern geschichtsphilosophisch: "Das Scheitern der vergangenen Kämpfe hat Effekte nicht nur auf die Gegenwart, sondern auch auf das Verhältnis der Zeiten zueinander. Heute kann die Zukunft nicht mehr gefunden werden in Momenten der Gegenwart, die über diese hinausweisen (...), sondern muss zuvor aus den Momenten der Vergangenheit gelöst werden, in denen sie stecken geblieben ist." Erst müssten die Verratenen betrauert werden, bevor ein neuer kommunistischer Versuch möglich sein wird. Die Ideen und Absichten der zeitgenössischen Kommunisten versucht Adamczak mit einer Art einfühlendem close reading ihrer Schriften zu entschlüsseln.

Auf der Suche nach einer kommunistischen Position

Gestern morgen ist ein merkwürdiges Buch. In keiner anderen westlichen Industrienation (möglicherweise mit Ausnahme der USA) hätte es entstehen können. Aber weil in Deutschland die kommunistische Tradition so gründlich abgerissen wurde und sich die Linke hierzulande noch mehr als anderswo als Milieu konstituiert, muss offenbar jede Generation das Rad neu erfinden. Die zeitgenössische Bolschewismus-Kritik von Trotzkisten, Rätekommunisten oder Anarchosyndikalisten, von Karl Korsch oder Anton Pannekoek findet keine Erwähnung, was "die Kommunisten der Vergangenheit" (Adamczak) leicht beschränkt (und darum auch leicht zu belehren) erscheinen lässt.
Die Autorin selbst nennt ihr Werk einen "Essay", einen "scheiternden Versuch". Sein Thema ist wichtig, die Idee, der Geschichte rückwärts zu folgen, brillant. Es geht – unter anderem! – um das Problem der revolutionären Gewalt, um Messianismus und Utopie und das Verhältnis von Partei und Klasse. Adamczak nähert sich diesen Fragen tastend, stellenweise taumelnd, aber sie nähert sich; sie ist wirklich auf der Suche nach einer kommunistischen Position. Es macht Sinn, dass sie ihren Gang durch die Geschichte entgegen dem Zeitstrahl nicht 1917 enden lässt, sondern an den Schluss eine kurze autobiographische Skizze stellt. Die erzählt von der "Einsamkeit in einer deutschen Kleinstadt der neunziger Jahre“, wo die "kommunistische Begierde" nur als wilde Fantasie vorhanden war und die ersten, politisierenden Kämpfe individuell, jedenfalls bestimmt nicht von einem Klassenstandpunkt aus, gekämpft wurden.
Das Problem an "Gestern morgen" ist: Kitsch. Adamczak geht die historische Erfahrung nahe, aber leider versucht sie dem Leser ihre Betroffenheit stilistisch aufzuzwingen. Der Unterschied entspricht etwa dem, jemandem ein Marmeladenbrot anzubieten oder ihn mit selbigem zu bewerfen. Ihre Pfaffenprosa, der zufolge "Trost gespendet" wird und "Vögel" den "Glauben" verlieren, "dass Luft tragen kann", ist schwer zu ertragen. Als Pathos ginge das hin, aber es verhindert auch, dass die unbequemen Fragen deutlich werden. Vom Pfarrer lässt man sich bekanntlich warnen und mahnen, man diskutiert nicht ihm. Aber warum eigentlich soll früher die kommunistische Gesellschaft "in Latenz" vorhanden gewesen, es heute aber nicht mehr sein? Welche Rolle spielte die ökonomische Rückständigkeit Russlands für das Scheitern? Welche anderen, besseren Möglichkeiten boten sich den Kommunisten zwischen 1917 und 1933, als die revolutionäre Welle wegebbte? Und schließlich, welche theoretische Alternative gibt es zur Dialektik von "Klasse an sich" und "Klasse für sich"? Vielleicht dient ja Gestern morgen als Anfang einer gründlicheren Debatte.

Bini Adamczak: Gestern Morgen. Über die Einsamkeit kommunistischer Gespenster und die Rekonstruktion der Zukunft. Unrast Verlag, Münster 2007.

 

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