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Elisabeth Noelle-Neumann mit Konrad Adenauer

 

Meinungsforschung als Propaganda
Heute wird Elisabeth Noelle-Neumann 90 Jahre alt. Sie verkörpert deutsche Kontinuität.

 

Von der Weissagerin im antiken Delphi wird berichtet, vor der Prognose habe sie zusammen mit den Ratsuchern ein gemeinsames Bad genommen. Die Presse nennt Elisabeth Noelle-Neumann gerne die „Pythia vom Bodensee“, denn auch sie ist bekannt für den engen Kontakt zu ihren Auftraggebern. Heute feiert sie ihren 90. Geburtstag und kann auf ein bewegtes und erfolgreiches Leben zurückblicken. 1916 als Fabrikantentochter geboren wuchs sie in großbürgerlichen Verhältnissen auf. Der elitäre Zug ihrer politischen Vorstellungen mag dort seinen Ursprung gehabt haben. Während der Nazi-Zeit war sie Journalistin, später eine einflußreiche Akademikerin, sie war Beraterin des Bundeskanzlers Konrad Adenauer und schließlich eine enge Freundin Helmut Kohls. Ihr Institut für Demoskopie (IfD) in Allensbach am Bodensee war nicht nur eine wissenschaftliche Forschungsstätte, sondern auch ein Zentrum des deutschen Konservatismus.

Dubiose Rolle im Nationalsozialismus
„Die Gefahr, ins Konzentrationslager gesteckt zu werden, schwebte immer über mir“, schrieb Noelle-Neumann im Januar 1992 in einem Brief an Commentary, die Zeitschrift des American Jewish Comitee. Der amerikanische Meinungsforscher Leo Bogart hatte dort zuvor die Tätigkeit seiner deutschen Kollegin zwischen 1933 und 1945 kritisch untersucht. Obwohl die Demoskopin sich öffentlich immer wieder als Oppositionelle darzustellen versuchte, kam er in seinem Beitrag zu ganz anderen Schlüssen: „Aufgrund ihrer hervorragenden Zeugnisse als Aktivistin und Leiterin nationalsozialistischer Jugend- und Studentenorganisationen“ sei sie unter anderem mit einem Auslandsstipendium belohnt und vom Propagandaministerium unter Joseph Goebbels gefördert worden. Fünf Jahre später interpretierte der Kommunikationswissenschaftler Christopher Simpson ihre Theorien vor deren zeitgeschichtlichem Hintergrund und versuchte nachzuweisen, wie diese in staatlichen Propagandamethoden umgesetzt wurden. Noelle-Neumann reagierte empört auf diese Artikel. Mit einer gezielten „Kampagne“ solle ihre „Identität zerstört“ werden. Entlastendes konnte sie allerdings nicht vorweisen.
Noch vor den amerikanischen Wissenschaftlern hatte der deutsche Publizist Otto Köhler in seinem Buch „Wir Schreibtischtäter“ (1989) Wollen und Wirken der jungen Noelle im Nationalsozialismus öffentlich gemacht. Er verwies auf ihre Dissertation über die Meinungsforschung in den USA, in der es unter anderem heißt: „Seit 1933 konzentrieren die Juden, die einen großen Teil von Amerikas geistigem Leben monopolisiert haben, ihre demagogischen Fähigkeiten auf die Deutschlandhetze.“ In dieselbe Kerbe schlug sie später in einem Artikel mit dem Titel „Wer informiert Amerika?“ in der Zeitschrift Das Reich: „Juden schreiben in den Zeitungen, besitzen sie, haben die Anzeigenagenturen fast monopolisiert (...). Sie kontrollieren die Filmindustrie, besitzen die größten Radiostationen und alle Theater.“
Zum Skandal wurden Köhlers Informationen nicht, weil die Presse peinlich berührt über die Nestbeschmutzung hinwegging. Erst als in den USA Elisabeth Noelle als Nazi-Propagandistin angegriffen wurde, kam auch in Deutschland eine zögerliche Debatte in Gang, ob die soziologische Koryphäe sich damals aus Überzeugung oder Ehrgeiz als Nazi gab. Das war natürlich nichts als eine Scheinfrage: Bekanntlich konnten sich beide Antriebskräfte hervorragend ergänzen. Elegant umgangen wurde so aber das Problem, wieviel Faschismus eigentlich in Noelle-Neumanns Theorien und damit auch im westlichen Nachkriegsdeutschland steckte, wo sie so außerordentlich erfolgreich war.

Ein Job-Angebot von Goebbels
Welche gesellschaftliche Rolle soll die Meinungsforschung ihrer Ansicht nach spielen? Mit ihrer Promotion will Elisabeth Noelle 1940 eine neue sozialwissenschaftliche Methode aus den USA nach Deutschland importieren: die Massenumfrage, mit standardisierten Fragen, „repräsentativem Sample“ und statistischer Auswertung. Deren angebliche Wissenschaftlichkeit liegt für sie darin – für viele deutsche Konservative noch lange eine Provokation –, daß sich mit ihrer Hilfe der öffentliche Meinungsstreit auf Zahlenverhältnisse reduzieren läßt. Die so gewonnen Informationen sind die Voraussetzung, um Massen regieren zu können. Ihre Doktorarbeit enthält nicht nur rassistische Klischees und antisemitische Verschwörungstheorien, sondern auch handfeste Ratschläge: „Die durch die Massenbefragung einmal eröffnete Aussicht, in die Gedanken, Gewohnheiten und Stimmungen einer beliebig großen anonymen Menge Menschen einzudringen“, sei ein so großer „Gewinn, sei es für die Meinungsführung, die Geschichtswissenschaft oder irgendein anderes der Gebiete, die den Menschen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung stellen“, daß die Regierung geradezu verpflichtet sei, demoskopische Mittel anzuwenden – „insbesondere (unter – M. B.) deutschen Verhältnissen“. Welche Wirkung Propaganda zeigt, wie bestimmte Gruppen und Schichten auf ihre Politik reagieren – all diese Fragen müssen jede Regierung interessieren, ob sie sich nun hauptsächlich auf Parlamentswahlen, Akklamation oder Gewalt stützt. Noelle argumentiert, nützlich sei die Demoskopie auch für die Untersuchung der öffentlichen Meinung in Nazi-Deutschland, obwohl die – so zitiert sie Joseph Goebbels – „zum größten Teil das Ergebnis einer willensmäßigen Beeinflussung ist“. Bis dahin war der Minister über die Wirkung seiner Propaganda auf Vermutungen und zweideutige Indizien angewiesen. Gerade weil spontane Meinungsäußerungen in der Öffentlichkeit unterdrückt wurden, stand der oberste Propagandist vor dem Problem, über die Stimmung im Volk ungenügend unterrichtet zu sein. „Bei der Erfüllung dieser Aufgaben (der Regierung – M. B.) wäre ein zuverlässiges System der Massenbefragung nicht nur wertvoll als eine Kontrolle der eigenen Wirksamkeit, sondern auch als ein Hilfsmittel der Einfühlung in das wahre Wesen der Geführten“, wirbt die junge Wissenschaftlerin eifrig. Waren diese Darlegungen der Grund dafür, daß Goebbels ihr zwei Jahre später laut eigener Aussage eine Stelle als seine „Adjutantin“ anbot? Wären Meinungsumfragen im Stil Allensbach im faschistischen Deutschland machbar gewesen? Jedenfalls kam die Zusammenarbeit nicht zustande, Noelle blieb Journalistin und Goebbels setzte auf die Berichte des Sicherheitsdienstes, die, obschon nicht „repräsentativ“, systematisch ausgewertet und zur „Meinungsführung“ genutzt wurden.

Zwischen Beratung und politischer Kampagnen in der BRD
In der wissenschaftlich begründeten Politikberatung erkennt Elisabeth Noelle also schon 1940 ihre Aufgabe als Demoskopin. „Die Demoskopie (sollte – M. B.) der Pflege des Konsenses zwischen Regierung und Regierten dienen“, wird sie später in eine Rede betonen. Vom Zusammenbruch Hitler-Deutschlands bleibt diese Aufgabenstellung unberührt. Dabei geht es nicht darum, etwa den Ansichten der Bevölkerungsmehrheit zur Verwirklichung zu helfen – wozu demoskopische Mittel auch ganz ungeeignet sind. Ihre politischen Ansichten sind technokratisch bis antidemokratisch, die von ihr befragte Bevölkerung entspricht keineswegs dem aufklärerischen Ideal eines raisonierenden Publikums, sondern einer Masse, die angeleitet werden muß. Der „mündige Bürger“ ist ihrer Ansicht nach ein Ideal, „das wir in der Demoskopie nicht wiederfinden können“. Politik sollte man daher denen überlassen, die etwas von ihr verstehen: „Das richtige Vorgehen wäre es, daß sich zunächst die Experten fachkundig machen, daß sie daraufhin die Politiker und Journalisten informieren und daß schließlich die Politiker mit Hilfe der Journalisten den Wählern klarmachen, warum bestimmte Maßnahmen richtig sind.”
1948 gründet sie mit ihrem Mann Peter Neumann das IfD, das erste und lange Zeit das einflußreichste Meinungsforschungsinstitut der Bundesrepublik. Ab Anfang der fünfziger Jahre arbeiteten die beiden dann für das Kanzleramt unter Adenauer. Außerdem beliefert man die Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit Umfragen; später wird sie für die konservative Tageszeitung auch schreiben. Als 1982 die Koalition aus CDU und FDP an die Macht kam, bedankt sich der neue Kanzler Helmut Kohl: Ab 1983 erhielt Allensbach die Hälfte aller Meinungsforschungsaufträge des Bundespresseamtes, Aufträge im Wert von 700 000 DM jährlich.
Bis heute ist Allensbach eng mit der CDU verbunden. Immer wieder überschritten die Umfragen die Grenze zur politischen Kampagne. Etwa 1986, als Elisabeth Noelle-Neumann von sich aus der deutschen Industrie eine Studie anbot, „um das demagogische Potential der Arbeitslosigkeit“ zu entschärfen. Die Zahl der Arbeitslosen hatte die Zwei-Millionen-Grenze überschritten und das Thema drohte, den Wahlkampf zu bestimmen. Die Ergebnisse unterstützten die Regierungspolitik: „59 Prozent der repräsentativ befragten Arbeitslosen erklärten, sie würden keinen Job annehmen, der ihnen keinen Spaß macht. 39 Prozent wollen sich ‚etwas Zeit‘ bei der Arbeitssuche lassen, fast die Hälfte hat sich im letzten halben Jahr auf keine Stellenanzeige beworben.” Trotzdem wurde die Kampagne zum propagandistischen Fehlschlag; schließlich distanzierte sich sogar die Regierung Kohl von der Umfrage. Ob Vaterlandsliebe oder die Einstellung zur Marktwirtschaft, Entnazifierung oder Ostpolitik, Noelle-Neumanns Umfragen waren gezielte politische Interventionen, ihr Institut ein konservativer Thinktank.

Schweigespiralen und Geschwätzlawinen
Einflußreich wurde die Idee von der „Schweigespirale“. Nach ihr die prüfen die Gesellschaftsmitglieder fortwährend, ob ihre Ansichten mit den Mehrheitsmeinungen übereinstimmen. „Wenn Menschen glauben, daß sich andere von ihnen abwenden, leiden sie so sehr, daß sie durch ihre Sensibilität so leicht geleitet oder manipuliert werden können, als gingen sie am Zügel.“ Dies ist der Ausgangspunkt für Elisabeth Noelle-Neumanns Theorie der öffentlichen Meinung. Geschichte und Politik spielen bei der Entstehung des Konformitätsdrucks keine Rolle, als Mitläufer werden wir geboren.
Vor dem geschichtlichen Hintergrund ist das natürlich schmeichelhaft. Aus dieser Perspektive konnte das deutsche Volk gar nicht anders, als seine Meinungen für sich zu behalten, als die Nazis gegen Juden und Kommunisten hetzten. Erst vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund läßt sich Noelle-Neumanns Idee der „Schweigespirale“ würdigen: Der einzige international einflußreiche Beitrag zur sogenannten Medienwirkungsforschung aus Deutschland ist zugleich ein apologetisches Manöver. „Die Furcht vor Isolation erscheint als die treibende Kraft, die den Prozeß der Schweigespirale in Kraft setzt“, heißt es in ihrem Hauptwerk mit dem Untertitel „Öffentliche Meinung – Unsere soziale Haut“. Aus dieser können wir angeblich so wenig heraus wie aus unserer biologischen. Weil niemand den Mut gehabt habe, das faktische Gegenteil auszusprechen, schien es, als seien die Deutschen ein Volk von Judenhassern. Dabei waren sie doch eigentlich nur sensibel.
Bezogen auf die bundesdeutsche Politik dagegen, lieferte Noelle-Neumanns Munition für die rechte Medienschelte. Denn der vermeintlich angeborene Widerwille dagegen, sich anders als die anderen zu äußern, führt aber zu Verzerrungen, wenn die Meinungen einer Minderheit nicht entsprechend ihrer „tatsächlichen Verbreitung“ vertreten, sondern „überrepräsentiert“ sind. Die Schweigespirale ist ein sich aufschaukelnder Prozeß: Die Ansichten von Minderheiten werden seltener geäußert, deshalb weniger geteilt und deshalb wiederum weniger geäußert usw.
Nur ist die Minderheit, der Noelle-Neumanns beistehen will, wertkonservativ, und ihre Kritik gilt den vermeintlich linken deutschen Journalisten. Von den Sorgen der „schweigenden Mehrheit“ hätten sie keine Ahnung, aber ihre liberale Ansichten bestimmten das Meinungsklima in der Bundesrepublik. Solche Argumente nutzte Helmut Kohl in den frühen achtziger Jahren, um die sogenannte „geistig-moralisch Wende“ durchzusetzen. Protest sei wegen der politischen Sympathien der Journalisten in der Öffentlichkeit überrepräsentiert, so das gerne gebrauchte Argument, eigentlich handele er in Übereinstimmung mit dem Willen der Mehrheit, der aber nicht öffentlich würde.
So groß soll der Einfluss der Medien sein, daß sie die politische Tagesordnung (mit-)bestimmen können. Welche Themen und Probleme in der Öffentlichkeit verhandelt werden, erklärt Noelle-Neumann dabei aus den Überzeugungen und Interessen der Medienproduzenten. Gelegentlich war ihr Glaube an die mediale Manipulationsmacht geradezu grotesk. Als bei einer Wahl die SPD überraschend gut abschnitt, führte die Demoskopin dieses Ergebnis darauf zurück, daß die Bürger in den Tagen vor der Wahl besonders viel ferngesehen hätten. Merke: TV macht links! Ein Forschungsergebnis über das Agenda-Setting allerdings widerspricht Überzeugung Noelle-Neumanns, linke Tendenzen in der Berichterstattung kämen durch die politischen Vorlieben der Journalisten zustande. Nicht die individuellen Einstellungen entscheiden demnach darüber, was in die Zeitung kommt, sondern die Medienproduzenten passen sich im Gegenteil der Tendenz ihrer Publikationsorgane an. Keine Beachtung schenkt Noelle-Neumann dem Gegenteil der Schweigespirale, den medialen Geschwätzlawinen, dem mit denen die politische Klasse Begriffe und Themen besetzt. Offenbar ist der Konformitätsdruck unter denen, die beruflich Öffentlichkeit herstellen, nicht weniger groß als im Publikum.

Fiktion der öffentlichen Meinung
Das sogenannte Agenda-Setting – der Einfluss der Medien darauf, was das Volk für wichtig hält – ist in zahlreichen Studien nachgewiesen worden, wobei sich natürlich die Wirkung des Medienkonsums nicht vom Einfluß der Politik und anderer Kräfte isolieren lassen. Die Medienwirkungsforschung steht vor dem unlösbaren Problem, Verhalten nur in der gesellschaftlichen Wirklichkeit beobachten zu können, in der sich die Einflußgrößen gegenseitig durchdringen, die sie doch auseinanderhalten will. Deshalb interpretiert die Meinungsforschung trotz ihres gewaltigen statistischen Aufwands letztlich ganz genauso wie eine Stammtischrunde. Statistiker sprechen scherzhaft von „Dichtung und Gewichtung“. Insofern wirkt Noelle-Neumanns Anspruch, in Allensbach betreibe man exakte Wissenschaft, einigermaßen dreist.
Denn selbst sie keine Suggestivfragen enthalten, ist es problematisch, statistisch repräsentative Umfragen als Ausdruck der „öffentlichen Meinung“ zu verstehen. Obwohl sie nur Wahrscheinlichkeiten ermitteln (die wiederum fast nie angegeben werden), vermitteln sie ein nur scheinbar objektives Stimmungsbild. Vor allem aber reduzieren sie per Definition komplexe Haltungen und Entscheidungen auf Alternativen, die von den Forschern vorgegeben werden und mit den Ansichten der Befragten nichts zu tun haben müssen. Eine größere Menge unverbindlicher Antworten soll ein politisches Votum darstellen, als ob die Interviewfrage eine Abstimmung wäre. Die so erzeugten Prozentzahlen sagen wenig aus, wie der Soziologe Ferdinand Tönnies bereits 1922 wußte. Der teilte die öffentliche Meinung in unterschiedliche „Aggregatzustände“ ein: „gasförmig“ sei sie, wenn es sich um vage Zuneigungen handelt, »flüssig«, wenn sie Überzeugungen entspricht, und »fest«, wenn sie zu politischen Handlungen führt. Solche qualitativen Unterschiede eben nicht zu machen, kennzeichnet die bloß quantitativ arbeitende Umfragedemoskopie. Sie gibt vor, „öffentliche Meinung“ neutral und objektiv widerzuspiegeln, während sie in Wirklichkeit öffentliche Meinung erzeugt.

Schwindender Einfluß?
Obwohl ein privates und profitables Meinungsforschungsinstitut, suchte Noelle-Neumann und ihr IfD immer die Nähe zur akademischen Forschung. Statt quasiindustriell Daten zu liefern, setzte sie auf Qualität und Meinungsführerschaft. Damit das auch in Zukunft so bleibt, gründete sie 1996 die „Stiftung für Demoskopie“, deren Kuratorium „in erster Linie aus dem Kreis von Führungskräften der Wirtschaft” (z. B. Mannesmann und Nestlé) besetzt ist. Das erklärt vielleicht auch die Studie vom Juli, die sich mit der Einstellung der Deutschen zur Globalisierung. Mit dem Ergebnis aber ist man in Allensbach nicht zufrieden. „Die meisten sehen mehr Risiken als Chancen“, heißt es da. Wie kann das sein? „Deutschland als weltweit führende Exportnation profitiert durch die Globalisierung“, schreiben die Verfasser so apodiktisch, wie es nur Wissenschaftler können. Politisches Erkenntnisinteresse und akademisches Renommee stehen in einer merkwürdigen Spannung.
Zum Debakel wurde die Bundestagswahl 2002. In der FAZ stellte man der FDP wochenlang etwa zwölf Prozent der Stimmen in Aussicht, tatsächlich bekamen die Liberalen gerade einmal 7,4 Prozent. Auch die anderen großen Meinungsforschungsinstitute hatten sich gründlich blamiert. Obwohl deren politischer Einfluß und Umsatz nach wie vor wächst, macht sich in der Öffentlichkeit ein gewisser Zynismus breit. Das liegt daran, daß sich mittlerweile fast alle der Meinungsforschung bedienen, und mit Umfragen alles und auch das Gegenteil bewiesen wird.
Elisabeth Noelle-Neumann verkörperte wie kaum eine andere die ungebrochene Tradition des konservativen Deutschlands, eines politischen Lagers, das sich erst für die Nazis nicht zu schade war und dann die Bundesrepublik prägte. Kommt diese Tradition nun endlich an ihr Ende? Heute werden ihr die Vertreter der Führungskreise in Politik und Wirtschaft herzlich zum Geburtstag gratulieren. Wirklich maßgeblichen Einfluß aber hat ihr Institut nicht mehr, seit der christdemokratische Übervater Helmut Kohl nicht mehr Partei und Regierung lenkt. Ihre Macht beruhte vor allem auf persönlichen Netzwerken im wertkonservativen Lager, das sich tendenziell zersetzt hat. Die neoliberalen Modernisierer in der CDU können mit ihr wenig anfangen und bedienen sich anderer Strategien; andere Meinungsfabriken und Lobbygruppen sind aufgestiegen. Symptomatisch für diese Entwicklung: Seit 2001 klärt statt Noelle-Neumann der Chef von EMNID Klaus-Peter Schoeppner die Parteispitze über die Sorgen und Nöte des deutschen Volkes auf.
Während Allensbach ihre Autorität mit der Aura von Wissenschaftlichkeit stützte, imitieren die neuen Kampagnen politische „Reformbewegungen“ und setzen auf „Authenzität“. Für Populismus, wie ihn beispielhaft die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ verbreitet, ist Elisabeth Noelle-Neumann zu alt. Der Bertelsmann-Konzern finanziert das Centrum für Hochschulentwicklung, das sich selbst als „unabhängig, kreativ und umsetzungsorientiert“ bezeichnet – Elisabeth Noelle-Neumann wäre etwas ähnlich Albernes wohl nie eingefallen. Aber trotz ihres schwindenden Einflusses hat sie die Republik geprägt – durch ihre unbeirrbare Überzeugung, daß die öffentliche Meinung den Herrschenden folgen wird, wenn sie nur unbeirrt voranschreiten. Daß es so kam, ist auch ihr Verdienst.