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Führung mit allen Mitteln

(Konkret, Februar 2004)

Der Psychiater Tony Zigmond von Royal College ist einigermaßen fassungslos: “Was diese Regierung will, ist Internierung.” Geisteskranke, die angeblich zu Gewalttätigkeit neigen, sollen gegen ihren Willen in geschlossene Einrichtungen eingewiesen werden. So will es der Gesetzentwurf “Mental Health”, der auch jedem Bürger das Recht geben wollte, auf der Untersuchung einer Person bestehen kann, die er “für gefährlich hält”, eine Bestimmung, die nach Protesten psychisch Kranker vor dem Parlamentsgebäude wohl gestrichen werden dürfte.
Ihren Zweck hat die populistische Initiative schon erfüllt: die Wähler davon abzulenken, daß New Labour seine Versprechen, das Gesundheitswesen zu sanieren und den öffentlichen Nahverkehr benutzbar zu machen, nicht erfülllen wird. Keine Woche vergeht, ohne daß ein zerknirschter Regierungssprecher eine neue Hiobsstatistik kommentieren muß. Da ist es schön, ein Thema zu haben, das populär und in doppeltem Wortsinn billig ist: die öffentliche Sicherheit. Seit Blairs Wahlsieg hat New Labour elf Gesetze zur criminal justice verabschiedet und der Polizei und den Gemeinden eine Unzahl neuer repressiver Möglichkeiten in die Hände gegeben. Immer häufiger heißt das Ziel nicht Verbrechensbekämpfung, sondern Unterdrückung von “Rowdytum” oder “antisozialem Verhalten”. So wird die Polizei künftig an Ort und Stelle Strafzettel für Trunkenheit in der öffentlichkeit, Graffitisprayen, “bedrohliches Verhalten”, “Abfall fallenlassen” und “Zeit der Polizei verschwenden” ausstellen. Die sogenannten On the Spot-Fines werden bis zu 80 Pfund kosten. Als “antisoziales Verhaltens” wird manches bestraft, was nie eine Straftat war. Wer seinem Kind erlaubt, nicht zur Schule zu gehen, riskiert künftig eine Geldstrafe, im Wiederholungsfall sogar Gefängnis. Ausgesprochen werden sollen diese Strafen nach den Vorstellungen der Regierung von den Schuldirektoren.
Immer häufiger will die Regierung Blair nicht einzelne strafbare Handlungen verfolgen, sondern ein ganzes Milieu von Tätern, das sie “antisozial” nennt, “einen harten Kern von uneinsichtigen Straftätern”, so der Premier, der für mehr als die Hälfte der Kriminalität verantwortlich sei. Sie zu bekämpfen ist Aufgabe nicht nur der Polizei, sondern der ganzen sogenannten Zivilgesellschaft und ihrer Institutionen. So kann einem auf Bewährung Entlassenen, der gegen seine Auflagen verstößt, ganz einfach das Wohngeld gestrichen werden. Ein Sprecher der Regierung erklärt das Prinzip des neuen Rechtsstaats: “So jemand zerstört doch jedes Gemeinschaftsgefühl im Viertel, und bekommt dafür dann noch Geld. Ist das vielleicht fair?”

Ein Team aus wütend konkurrierenden Individuen ist eine sonderbare Sache ...

Anders als in Deutschland, wo Gemeinschaft noch in erster Linie mit Nation assoziiert wird, klingt community in Großbritannien nach Nachbarschaft, lokal und vertraut, unbürokratisch und direkt. Heute allerdings taucht das schöne Wort in der Regel vor eher unschönen Dingen auf, wie “Nachbarschaftsaufseher” oder “Nachbarschaftsstrafen”. Weil die Gemeinschaft der Gutwilligen auf einer Willensanstrengung beruht, sollen sich eben alle einfach ein bißchen mehr Mühe geben – und wenn sie es nicht tun, wird man es ihnen geben. Der Kommunitarismus kommt zu sich selbst, und sein Tugendterror hat gnadenlose Auswirkungen. New Labour, ohnehin mehr ein ideologisches Konstrukt als definierbare Politik, verbindet kommunitaristische Rhetorik mit etwas, das die Tageszeitung Independent im November einen “neuen Autoritarismus” nannte.
Das zeigt sich am deutlichsten im Bildungswesen. Der dafür zuständige Minister Charles Clarke sagte bei seinem Amtsantritt Ende November des vergangenen Jahres: “Alle in einer Schule, ob Lehrer, Schüler, Hausmeister oder Putzkräfte, sind Teil eines Teams; und die Schule funktioniert am besten, wenn das Schulteam funktioniert.” Nun hat keine Regierung mehr Leistungstests eingeführt und den Arbeitsdruck von Schülern und Lehrern kräftiger erhöht als New Labour. Ein Team aus wütend konkurrierenden Individuen ist eine sonderbare Sache, aber vielleicht doch nicht ganz unmöglich. Nur eine weitere Zutat ist dazu nötig. Minister Clarke: “Ich habe über Professionalität und Teamgeist gesprochen. Aber der springende Punkt, der Slogans in harte Fakten verwandelt, ist Führung. Wir brauchen Führung auf allen Ebenen ... und diese Regierung wird Führung mit allen Mitteln fördern.”
Die Maßnahmen, mit denen New Labour den Rowdys, Schmarotzern und Verbrechern zu Leibe rücken wird, sind populär, das Potenzial, das sich in den 90er Jahren in England zusammenrottete um, angeheizt von der Gossenpresse, echte und vermeintliche Kinderschänder zu lynchen, ist beträchtlich. Und in der Rechtsprechung hat die populistisch Politik New Labours fatale Auswirkungen. Während die Ordnungspolitiker der Partei “weiche Strafen” zur Verhaltenslenkung vorziehen (beispielsweise Fußfesseln mit Peilsender), nutzen Richter die neuen Gesetze, um immer mehr Menschen ins Gefängnis zu schicken. Schon heute sind die Knäste überfüllt, häufen sich Selbstmorde und Gewalttaten unter den Gefangenen. Im letzten Jahr waren in England und Wales mehr als 70.000 Menschen eingesperrt, im November veröffentlichte Prognosen gehen davon aus, daß die Zahl der Gefangenen in den nächsten vier Jahren auf über Hunderttausend steigen wird, was, nach Angaben von Bewährungshelfern, den Bau von mindestens 40 neuen Gefängnissen erfordern werde.