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Heimatgeschichte in Ludwigshafen ist Industriegeschichte, wie könnte es auch anders sein, beherbergen wir doch auf dem Stadtgebiet den größten zusammenhängenden Industriekomplex Europas, die BASF. Oder ist es vielleicht umgekehrt, will sagen, wer beherbergt hier wen? Die Stadt die Fabrik, oder die Fabrik die Stadt? Schwer zu sagen, jedenfalls war Ludwigshafen, als Carl Boschs unternehmerischer Blick 1899 zum erstenmal darauffiel, kaum mehr als der Brückenkopf Mannheims auf der falschen Seite des Rheins. Seitdem hat die heutige Pfalzmetropole ungeahnte Höhen erklommen, der Aufstieg der deutschen chemischen Industrie ließ die eingeborenen Pfälzer mitsteigen, sozusagen huckepack von einem Höhepunkt zu nächsten. Deswegen wird es uns hier am Rhein auch nie langweilig, für Spiel, Spaß und Spannung ist bestens gesorgt. Das war vor 74 Jahren nicht anders als heute ...

 

„565 Proleten in die Luft”

(erschienen zwischen 1994 und 1996 in diversen lokalen Blättern)

"Wir wissen, von welch großer Bedeutung die Menschen aus dieser Landschaft für die Entwicklung der BASF waren - ein Menschenschlag, ausgezeichnet durch Einfallsreichtum, Selbstbewußtsein und Anpassungsfähigkeit."
Carl Wurster zum 100. Jubiläum der BASF über die Pfälzer

„Am 21. September 1921, morgens um 7 Uhr 23, unterbrach die Bahnhofsuhr Ludwigshafen ihren Kreislauf und legte auf die Sekunde den Moment fest, der ein großes Schicksal über Oppau auslöste und unendliches Leid in viele Familien brachte.“ So lyrisch beginnt die Beschreibung des Ludwigshafener Historikers K. Braun der bis dahin schrecklichsten Industriekatastrophe der Welt. Mindestens genauso lyrisch beginnt die Beschreibung des gleichen Ereignis aus anderer Perspektive: „Am Morgen dieses Tages wurde Carl Bosch durch einen dumpfen Knall in seinem wunderschönen Schloß Wolfsbrunnenweg auf einem Hügel über der Neckarstadt geweckt. Sofort weiß er: Das kann nur Oppau gewesen sein!“, schreibt der Bosch-Biograph Holdermann.

„Bilder der Zerstörung“

Was ist geschehen? Heimathistoriker Braun schreibt in seinen Buch >Geschichte von Oppau und Edigheim< folgendes: „Das gewaltige Stickstoffwerk Oppau war mit seinen wichtigsten Bauten und mit dem größten Teil seines Gastdorfes (sic!) unter schauerlichen Detonationen in die Luft geflogen.Weit über den Kreis der unmittelbar Betroffenen hinaus verbreitete die furchtbare Katastrophe Furcht und Schrecken. Ein greller Blitz durchleuchtete den tauigen Herbstmorgen, der Boden erzitterte wie bei einem Erdbeben, ein rollender Donner folgte, dann abermals ein gewaltiger Blitz mit nachfolgenden unerhörten Explosionen. Häuser wankten, Mauern barsten und stürzten ein, Fensterscheiben klirrten. Entsetzte Menschen stürzten auf die Straßen, um unbekannten Gefahren zu entrinnen. Bald schrien Telegraph und Telephon das Schauderhafte in alle Welt und Extrablätter verbreiteten die Schreckenskunde von der furchtbaren Explosionskatastrophe: >4.000 Tonnen Ammonsulphatsalpeter flogen im Stickstoffwerk der BASF in die Luft!< (...)
Über der Stätte des Unglücks lagerte eine ungeheure Wolke und es regnte eine graue, klebrige Masse, die sich weithin niederschlug. Eines der Silos des Stickstoffwerks, der Bau 110 war geborsten, mit seiner Bedachung in die Luft geflogen, in sich selbst zusammengestürzt. 80.000 Zentner Stickstoff, aus der Luft gewonnen, mit einem Schlag wieder zu Luft geworden! An der Stelle des Silos gähnte ein Erdloch von 125 Metern Länge, 90 Metern Breite und 19 Metern Tiefe, in dem sich langsam Grundwasser sammelte. Mehrere tausend Männer, Frauen und Kinder verwundet, blutüberstömt durch die Gassen und Plätze irrend, oder in dumpf brütendem Erstarren auf den armseligen Resten ihre Habe sitzend - so hatten in wenigen Minuten Bild und Stimmung sich gewandelt rund um das gewaltige Industriewerk.“
Ähnlich alttestamentarisch die amtliche Denkschrift der Stadt Ludwigshafen: „Umgeweht, auseinandergerissen ganze Straßenzüge, die Bedachungen der Häuser, der Stallungen und Scheunen weit fortgetragen, zerklüftet das Mauerwerk, entwurzelte Bäume darübergestülpt, zerschliessene Traghölzer, verbogene Eisenbahnschienen, kahl in die Luft ragend, darunter zerschmettert Mobiliar und Wirtschaftsgerät, übersät von Glasscherben, die in der Sonne blitzten, ängstlich brüllendes Vieh, heulende Hunde, verscheuchtes Vieh - ein endlos langes wüstes Trümmerfeld.
“Die Schäden beschränken sich aber keineswegs auf Oppau: „Mit welch geradezu elementarer Gewalt die Katastrophe hereinbrach, mag daraus hervorgehen, daß in den Städten Oggersheim, Frankenthal, Ludwigshafen und Mannheim, bis hinunter nach Worms, hinüber nach Heidelberg und in allen dazwischenliegenden Dörfern Mauern von Gebäudlichkeiten rissen, Dächer abgedeckt, unzählige Scheiben eingedrückt, Tür- und Fensterrahmen aus ihrem Senkel verschoben wurden, die großen Spiegelfenster der Kaufhäuser in Splitter gingen, mit ihren Scherben die Gehsteige und Fahrwege derart füllten, daß zum Beispiel in Heidelberg der Verkehr der elektrischen Straßenbahn ins Stocken kam. Ein Augenzeuge berichtet, daß in Mannheim ganze Hügel zersplitterten Glases in den Straßen lagen und stellenweise herausgeflogene Fensterrahmen, Kellergitter, Balkonschienen, Reste von Blumenstöcken und Schaufensterinventar die Wege sperrten.“ (Karl Braun)
Doch Hilfe naht! Carl Bosch verzichtet auf sein Frühstück und eilt nach Oppau, wie uns Biograph Holdermann verrät: "Bosch ging zunächst in das Rathaus von Oppau, das noch teilweise stand und wo der Bürgermeister mit seinem Magistrat in unbeschreiblicher Aufregung versammelt war. Der Bürgermeister richtete gegen Bosch die heftigsten Vorwürfe und Anklagen, Bosch blieb völlig ruhig, erklärte sein volles Verständnis für die große Erregung...“ Mit anderen Worten, er nahm dem Bürgermeister seine Aufgeregtheit überhaupt nicht übel. Einer muß ja auch die Nerven behalten, denn die Ludwigshafnerinnen tun es nicht: „Ein Teil der Bevölkerung war in den ersten Unglücksstunden, als sich das Gerücht verbreitet hatte, daß noch weitere Explosionen bevorständen, mit Kindern, Ziegen und Geflügel aufs freie Feld gegen Oggersheim geflüchtet...“ (Karl Braun)
Wie sah es in der BASF selbst aus? „Wir betreten das Werk von Süden her, dort wo sich das massive Verwaltungsgebäude und der flache Bau der Beamtenwohnungen erhebt. Die dicken neuen Betonmauern des Verwaltungsgebäudes haben dem Luftdruck standgehalten, nur die Fensterscheiben und was in den Räumen nicht ganz stabil war, ist völlig zertrümmert und durcheinander gewirbelt. Der Notbau der Beamtenwohnungen ist ein Bild der völligen Zerstörung. Die Außenwände und vollends das Dach sind vollständig weggerissen und durch sie blickt man in ein wüstes Gewirr von Einrichtungsgegenständen. Die Explosion hat schon in diesem vom Herd des Unglücks noch entlegenen Gebäude ihre Opfer gefordert. Ein Waschkrug steht in einem völlig demolierten Zimmer, von Blut über und über gerötet.
(...) Neben diesem Silo lag die Ammoniaksulfatfabrik, der Bau 111. Hier ist das Bild der Zerstörung noch grauenvoller, weil hier die Trümmer sichtbar sind und nicht wie in dem Explosionstrichter alles untergegangen ist. Es ist die Stelle, wo die großen Retorten und ein Teil der Säuretürme lagen. Ein kleiner Berg erhebt sich da; breite Spalten durchfurchen ihn. Eisenbarren und Eisenstangen ragen aus ihm hervor, zertrümmerte Retortenwände bedecken ihn. Aus den Spalten aber steigt der graue und gelbe Rauch atemberaubend. Unsagbar hat hier die Explosion gewütet, keine Spur der Anlage ist in dem Chaos zu erkennen! Feuerwehrleute versuchen sich ihm zu nähren und richten kräftige Wasserstrahlen gegen das unter den Trümmern unsichtbar fortzehrende Feuer. Endlos ließen sich die Bilder der Zerstörung ausmalen.“ (PFÄLZISCHE RUNDSCHAU vom 22. September 1921)
An diesem Septembermorgen sterben 565 Menschen durch die Katastrophe, über 2.000 werden verletzt, über 7.000 obdachlos. Sie wurden, so BASF-Vorsitzender Carl Duisberg, „Opfer des ewigen Kampfes des Menschen mit den Naturkräften“. Ist das Größenwahn, wenn sich ein deutscher Unternehmer selbst zur Naturkraft erklärt?

Ursachen

Bei der Trauerfeier für diese Opfer auf dem Hauptfriedhof Ludwigshafen spricht Carl Bosch vor den offenen Gräbern: „Kein Kunstfehler und keine Unterlassungssünde hat die Katastrophe herbeigeführt. Neue, uns auch jetzt noch unerklärliche Eigenschaften der Natur haben all unseren Bemühungen gespottet. Gerade der Stoff, der bestimmt war, Millionen unseres Vaterlandes Nahrung zu schaffen und Leben zu bringen, hat sich plötzlich als grimmiger Feind erwiesen.“ Woher der Trauernde seine Sicherheit nimmt, bleibt sein Geheimnis. Immerhin ist die Produktionsanlage zerstört und sind alle Zeugen der Vorgänge in Bau 110 an jenem Septembermorgen ums Leben gekommen. Nur Bosch selbst lebt natürlich, und ihm ist´s unerklärlich. Nahrung für die Millionen des Vaterlands meint hier Kunstdünger, hergestellt durch die von Bosch entwickelte Stickstoffsynthese, dem Hochdruckverfahren, das beispielsweise in Bau 110 praktiziert wurde. Die Werksleitung ging nämlich davon aus, daß das Stickstoffdüngesalz Ammonsulfatsalpeter Ursache der Katastrophe war.
Aber: „Bei der Ammoniak-Synthese weiß man nie genau, was am Ende herauskommt: Dünger zum Leben oder Munition zum Sterben.“ (Otto Köhler) Denn Carl Bosch wußte sehr gut, daß sich die Stickstoffsynthese genausogut oder besser (profitabler) zur Herstellung von Spreng- und Munitionsstoffen eignet. Als im I. Weltkrieg der deutschen Armee nach wenigen Monaten die Munition auszugehen drohte, war es das deutsche Chemiekartell (unter anderen BASF, Hoechst und Bayer, seit 1925 offiziell zur I.G. Farben zuzsammengefaßt), die den angeschlagenen Krieg durch ihre Produktion von Ammoniumsulphat rettete, sowohl Grundstoff für Dünger als auch für Schießpulver. Erst durch das tägliche Massenmorden konnte die BASF bzw. die I.G. zum unvergleichlichen Industriegiganten Deutschlands werden, eben durch Kugeln für Volksfremde statt durch Nahrung für die Landsleute.
So ist die These vom explodierenden Kunstdünger, vertreten von der BASF-Werksleitung auch keineswegs unbestritten. Die >New York Times< kommentierte damals das Ereignis: „Drei Jahre nach dem Waffenstillstand wurde die berüchtigte Anlage von Oppau durch die Explosion eines geheimnisvollen Stoffes in Stücke gerissen, und 3000 Menschen sind tot, verwundet oder vermißt. Proffesor Haber (Fritz Haber, Miterfinder der Stickstoffsynthese) und die anderen Wissenschaftler wissen nicht, wie es geschehen konnte, können es nicht erklären. Es mag nie zur vollen Zufriedenheit ehrbarer Wissentschaftler erklärt werden, aber wenn man sich vor Augen hält, daß es in Deutschland noch immer eine Gruppe unverbesserlicher und reaktionärer Militaristen gibt, die nach einem neuen Krieg trachten, um ihre verhängnisvolle Macht wiederzuerlangen, und daß diese gefährlichen Reaktionäre die Entdeckung tödlicher Gase mit gewaltiger Wirkung durch ihre Chemiker begrüßen würden, ist es nicht unvorstellbar, daß die Katastrophe von Oppau durch heimliche Experimente dieser Chemiker ausgelöst wurde.“ Fritz Haber hatte gegenüber einem Reporter der Zeitung behauptet, weder Nitrate noch der verwendete Hochdruck hätten eine Explosion dieses Ausmaßes verursachen können.
Die >New York Times< war nicht die einzige Pressestimme, die sich so äußerte. I.G.-Vorstandsmitglied Carl Duisberg: „Nun hat man die ganzen Forderungen nach Beschränkung unserer Industrie auch in Zusammenhang gebracht mit dem Unglück in Oppau. Die >Times< und die >Daily Mail< haben behauptet, es sei eine merkwürdige Sache, daß plötzlich ein Produkt in die Luft flöge, was eigentlich nicht in die Luft fliegen könne.“
Der Friedenvertrag von Versailles sah eine Kontrolle der Kriegsbetriebe durch die Alliierten vor, also auch des Werks in Oppau. Kontrolleur Leutnant McConell, der das Oppauer Werk noch vor der Katastrophe besichtigte: „Als ich das Werksgelände betrat, zeigten sich die Deutschen höflich, aber starrsinnig. Sie schienen gewillt, eine oberflächliche Inspektion über sich ergehen zu lassen; aber sie widersetzten sich energisch einer eingehenden Überprüfung. Am dritten Tag meines Aufenthalts wurde ich darüber informiert, daß meine Anwesenheit unerwünscht sei und ein formeller Protest der Friedenskonferenz übermittelt würde, falls ich meine Überprüfung weiter ausdehnen sollte.“ Warum?
Spätestens seit 1925 sind illegale (den Versailler Vertrag verletzende) Aufrüstungsmaßnahmen des Deutschen Reichs belegt. Es dauerte allerdings noch sieben Jahre, bis die Rüstungsindustrie den Politiker fand, der ihr wieder zu besseren Absatzmöglichkeiten verhalf: Adolf Hitler. Aber das ist eine andere Geschichte...

Die Düngerthese

Der Untersuchungsausschuß des Reichstags dagegen weiß es in seinem Abschlußbericht im September 1922 ganz genau: „Bei dem Explosionsunglück in Oppau handelt es sich um einen jener Betriebsunfälle, deren Ursachen sich durch alle Anstrengungen der Untersuchung und Zuhilfenahme der Wissenschaft und Technik nicht zuverlässig ergründet werden kann.“ Aber wir dürfen es trotzdem versuchen.
Bei einer Sitzung des oben erwähnten Ausschusses am 5. 12. erklärten Vertreter des Aniliner Arbeiterrats aufgrund von Analysen des Restbestandes des Ammonsulfatsalpeters, wie die Katastrophe entstanden sein muß, wenn der Explosionsstoff wirklich Kunstdünger war. Eine ungenügende Mischung der beiden Ausgangsstoffe Ammonnitrat und Ammonsulfat habe den Mischdünger explosiv werden lassen.
Ammonnitrat (auch bekannt als Ammonsalpeter) zersetzt sich spontan ab 200° C exotherm, also in einem Prozeß, der unter Wärmeentwicklung abläuft und keine Energiezufuhr von außen benötigt. Aus 1 kg werden dabei 70 l Gas. Dieser Stoff war im vergangenen Krieg als Sprengstoff eingesetzt worden.
Das es aber zur Katastrophe kommen konnte, sei kein Zufall, die Werksleitung habe das Produktionsverfahren geändert, um eine unverantwortliche Produktivitätssteigerung durchzusetzen. Der Arbeiterrat: „Man hat früher das Ammonnitrat und das Sulfat im Sättiger vermischt, die erkaltete Masse auf ein Gangband gebracht und in den Lagerraum, den Silo, überführt. Dieses Verfahren war für den Betrieb zu langweilig, hat man doch auch Leute benötigt, das Gangband zu überwachen. Fortschritt und Technik erklügelten ein Spritzverfahren: die vermischten Stoffe werden in den Leitungen bei 65° C zum Silo geleitet und mit Preßlußt zerstäubt, so daß die Produktion sich wie Schnee niederschlug. Beim Niederschlag haben sich die Stoffe teilweise wieder entmischt.“
Heimathistoriker Braun formuliert das alles etwas anders, sagt aber das Selbe: „Bei der längeren Lagerung bildet sich schließlich in den Salzsilos unter dem Druck des eigenen Gewichtes eine steinharte Masse. Man kann sie durch Handarbeit mit Pickeln auflockern, doch geht diese Arbeit bei den großen Salzmassen zu langsam von statten, um dem Versand in seiner lebhaftesten Verkaufszeit nachkommen zu können. Dann nehmen geprüfte Sprengtechniker und Schießmeister eine Sprengung (...) vor.“ Produktivitätssteigerung.
Der Arbeiterrat berichtete vor dem Untersuchungsausschuß weiterhin, die Sprengtechniker und Lagerarbeiter seien im Leistungslohn (>Stücklohn<) bezahlt worden und dadurch zur Vernachlässigung der Sicherheitsvorschriften verleitet worden. Folgerichtig verlangten sie das Verbot von Prämien- und Akkordarbeit in chemischen Betrieben. Der Untersuchungsschuß hört es sich an, überlegt und kommt zu dem eingangs zitierten Ergebnis. August Brey (SPD), Mituntersucher im Parlamentsausschuß und Gewerkschaftsvorsitzender der Chemiearbeiter, hat es schon im Oktober gewußt: „Die Ursachen des Unglücks sind noch nicht aufgeklärt. Ob dies jemals geschehen wird, ist ungewiß.“
Zurück zu der Trauerrede Boschs nach Ludwigshafen / Hauptfriedhof, was sagt er da gerade? „Wenn wir heute auch vor Trümmern stehen, so müssen wir doch wieder unverdrossen und nicht mutlos an unsere Arbeit gehen, eine Arbeit, die nur nach außen ruhmvoll und glänzend, in Wirklichkeit dornenvoll ist und bleiben wird“ Ach, stundenlang könnte ich ihm zuhören, Zitat auf Zitat häufen, es ist alles so schön, was er sagt! „Den Toten aber, die nicht mehr unter uns weilen, die hinabgestiegen sind in das dunkle Reich der Schatten, habe ich in dankbarer Erinerung an ihre treue Mitarbeit und Pflichterfüllung tiefbewegten Herzens einen Kranz am Grabe niedergelegt.“ Manche Industrielle werfen den Leichen noch Kränze ins Grab, über die sie gerade gegangen sind.

 

Vaterlandslose Pfälzer gegen Naionalhelden der verschiedensten Gattungen

Wer sich am 31. August 1921 sich am späten Nachmittag in Speyer vor das Regierungsgebäude wagte, lief Gefahr, einen bayrischen König mitsamt Bilderrahmen auf den Kopf zu bekommen. In den pfälzischen Städten hatten Demonstrationen gegen den Mord an Matthias Erzberger durch die rechtsradikale Organisation Consul stattgefunden. In Speyer kam es im Laufe der Demonstration zu einer regelrechten antibayrischen Revolte. Nach Abschluß der Kundgebungen drang ein Teil der Demonstranten ins Regierungsgebäude ein, riß die Bilder der bayrischen Herrscher von den Wänden, zerstörte sie und warf sie auf die Straße. In der Pfalz der 20er Jahre, damals noch ein Teil von Bayern, scheint sich das Volk nicht als konservative „Ordnungszelle des Reiches“ gefühlt zu haben.

Arbeiterwiderstand gegen den Kapp-Putsch

Zurück ins Jahr 1921: Der Mord am Zentrumspolitiker und Reichstagsabgeordneten Erzberger war das Ergebnis der Hetze gegen sogenannte Novemberverbrecher und Erfüllungspolitiker: Erzberger war ein Unterzeichner des Waffenstillstands im November 1918. Die Spur der Mörder führte nach München, nach der Niederschlagung der Münchner Räterepublik ein Tummelplatz rechtsradikaler Freikorpsverbände, damals regiert von Gustav Ritter von Kahr, strammer Monarchist und erklärter Republikfeind. Der sogenannte Speyrer Bildersturm war quasi eine militante Protestaktion gegen dessen revanchistische Haltung.
Eine Woche danach, am 7. September, wurden vier der Bilderstürmer mitten in der Nacht von der Polizei verhaftet. Schon in den frühen Morgenstunden versammelten aus Protest gegen die Verhaftungen Arbeiter vor dem Rathaus. Nachdem die Forderung nach Freilassung der Gefangenen vom Bürgermeister und vom stellvertretenden Regierungspräsidenten Chlingensperg kategorisch abgelehnt wurde, waren die Demonstranten nicht mehr zu halten. Das Rathaus wurde belagert und besetzt. Es kam zu Schlägereien mit Beamten, Chlingensperg wurde bedroht. Nur mit Mühe gelang es der Polizei, das Rathaus zu räumen; sie blieb aber im belagerten Rathaus eingeschlossen. Einige Protestierer wurden durch Polizeischüsse verletzt. Erst am Abend zerstreute sich die Menschenmenge. Ihr vordergründiges Ziel hatte sie erreicht: um dem Aufruhr den Wind aus den Segeln zu nehmen wurden am nächsten Tag die vier Verhafteten auf freien Fuß gesetzt.
Auch in Ludwigshafen kam es zu großen Demonstrationen gegen die rechtsradikalen Umtriebe in der Weimarer Republik, die erste mit 30 000 Teilnehmern, die zweite mit 50 000. In allen Betrieben, zuerst in der BASF, wird die Arbeit niedergelegt. Bei einer Kundgebung wurde ein 5-Punktekatalog verabschiedet, in dem sie die Säuberung der staatlichen Institutionen von „reaktionären, konterrevolutionären Elementen“ verlangten. Eine Gruppe Demonstranten erregte große Aufmerksamkeit, weil sie einen Galgen mit sich führte, an dem eine Puppe in Frack und Zylinder baumelte. So wurde im „antifaschistischen“ Widerstand jener Tage schon etwas von der Radikalität der späteren Erwerbslosenbewegung vorweggenommen.

Die BASF organisiert das Glück ihrer Arbeiter lieber selbst

Einen wesentlichen Beitrag für die Entstehung dieser Bewegung leistete jener Konzern, der heute großzügig Gelder für kulturelle Großveranstaltungen verteilt: die BASF. Damals war sie weniger großzügig. Am 29. November 1922, um 12 Uhr mittags, entließ Generaldirektor Bosch alles, was nach der verheerenden Explosionskatstrophe in Oppau 1921 von der Belegschaft noch lebte. Denn schließlich mußte er zeigen, wer Herr im Haus ist, Republikgefasel hin oder her.
Zuerst hatte sich die Direktion geweigert, mit einer von der BASF-Werksversammlung gewählten Kommission in Verhandlungen über Lohnerhöhungen einzutreten - die Leute sollten endlich mal begreifen, daß man sich einschränken muß, wenn das Geld weniger wert ist. Dann ergab sich eine gute Gelegenheit für eine Radikalkur: drei kommunistische Betriebsräte, Hauptdrahtzieher der ewigen Unzufriedenheit, wollten zum Reichsbetriebsrätekongreß nach Berlin - worauf sie rechtlich irgendwie auch einen Anspruch hatten. Die Direktion sagte sich, mal sehen, was passiert, und widerrief den infolge einer Unachtsamkeit bereits gewährten Urlaub. Die drei fuhren trotzdem und wurden fristlos entlassen. Das war der Auslöser für einen mehrwöchigen wilden Streik in Ludwigshafen, vorallem in der BASF, die tieferen Ursachen waren einerseits die wachsende Teuerung, die auch an anderen Orten zu Arbeitskämpfen und sozialen Unruhen führte, andererseits der Angriff der Großindustrie auf die revolutionären Errungenschaften wie den Achtstundentag.
Für einen Machtkampf in Ludwigshafen hatte die Linke allerdings die schlechteren Karten. Nach dem ersten Nachkriegsboom war der Export zurückgegangen, der Streik kam also für die BASF-Direktion genau zur richtigen Zeit. Die sozialdemokratischen Gewerkschaften gingen sofort auf Distanz und überließen die Führung der KPD, die BASF sperrte Zehntausende Arbeiter aus. Das bittere Ergebnis nach drei Wochen Arbeitskampf: mindestens 1500 Arbeiter wurden nicht wieder eingestellt, die Wiedereingestellten verloren alle Rechte aus dem vorherigen Arbeitsverhältnis wie Urlaubs- und Prämienansprüche, Abschaffung der gewählten Vertrauensleute, verstärkte innerbetriebliche Disziplinierung. Wegen dieser kläglichen Niederlage unter kommunistischer Führung verzeichneten die Anarchosyndikalisten (Freie Arbeiter Union Deutschlands FAUD) und Unionisten einen regen Zulauf zu ihren Organisationen. Auf jeden Fall bedeuteten Verlauf und Ergebnis des Streiks eine Radikalisierung der Arbeiterschaft in Ludwigshafen.
Eine Anekdote am Rand: im Januar 1923 flatterte der Stadtverwaltung und der Direktion der BASF ein Schreiben auf den Tisch, in dem die Ausrufung der „Freien Pfalz“ angedroht wurde für den Fall, daß die nach dem Streik entlassenen Arbeiter nicht wieder eingestellt würden. Wenig später, im März 1923, meldete sich bei der Abwehrstelle in Heidelberg (eine antiseparatistische staatliche Einrichtung) ein entlassener Arbeiter aus Ludwigshafen und erzählte eine „abstruse Geschichte über Putschvorbereitung in der Hemshöfer Anarchoszene“. Die Herren Geheimdienstler scheinen ihm allerdings nicht recht geglaubt zu haben, jedenfalls gingen sie der Sache nicht weiter nach.

Die Erwerbslosen

Im Mai 1923 sind in der Pfalz 51 340 Personen erwerbslos gemeldet, die Inflation rast. Dazu kam, daß es praktisch zwei Klassen Erwerbsloser gab: Erwebslose, die auf Grund des passiven Widerstands (gegen die französische Besatzung) ihre Arbeit verloren, und Erwerbslose, die schon vorher keine hatten! Die letzteren hatten lediglich Anspruch auf die gesetzliche Erwerbslosenfürsorge, die sich nach Bedarfssätzen richtete, und wurden für geringe Unterstützungssätze zu Notstandsarbeiten wie Wege anlegen, Dämme bauen etc. herangezogen. Die anderen wurden mit Geldern der staatlichen Rhein-Ruhr-Hilfe unterstützt, das heißt sie bekamen mindestens zwei Drittel ihres Gehalts weiter bezahlt, auch das wenig genug. Die Verteilung der Rhein-Ruhr-Hilfe war außerdem für die verschiedensten Interpretationen offen, so gingen bestimmte Betriebe leer aus und entließen ihre Arbeiter, andere wiederum konnten sich bereichern und gleichzeitig ihre unproduktiven Arbeiter los werden. Oft kamen die Erwerbslosengelder verspätet und waren deshalb durch die galoppierende Inflation teilweise schon wieder wertlos.
Aufgrund dieser Problematik entstand unter Führung der radikalen Linken - Kommunisten, Anarchosyndikalisten, Unionisten - im besetzten Gebiet eine Erwerbslosenbewegung. Erwerbslosenräte bildeten sich, die in einen scharfen Gegensatz zur Erwerbslosenfürsorge in den Kommunen gerieten. Diese Erwerbslosenfürsorge sollte unter Mitwirkung der Gewerkschaften die Versorgung mit Reichsgeldern gewährleisten. Am Sonntag, den 8. April 1923, fand in Kaiserslautern ein pfälzischer Erwerbslosenkongreß statt. Eingeladen hatten KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) und AAU (Allgemeine Arbeiterunion), die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften blieben der Veranstaltung fern. Der Kongreß geriet zu einer einzigen Anklage gegen die sozialtechnokratische Politik der SPD-Funktionäre: „Wenn ihr einen aus euren Reihen in den Ledersessel setzt, dann denkt und fühlt er nicht mehr mit euch.“ Beklagt wurde vorallem die schleppende Auszahlung der Gelder, auch die zwangsweise Heranziehung zu Notstandsarbeiten wurde kritisiert. Man müsse die Sache selbst in die Hand nehmen. Ein gewisser Georg Kunz aus Ludwigshafen agitierte besonders radikal. Für ihn stiegen mit der Aussicht auf einen Bankrott des Reiches auch die Chancen für eine Revolution.

Ludwigshafen entwickelte sich in den folgenden Monaten zum Zentrum der pfälzischen Erwerbslosenbewegung, in der der mitreißende politische Redner Kunz eine immer wichtigere Rolle spielte (Die Historiker Gräber und Spindler sprechen in diesem Zusammenhang von Ludwigshafen als einer Stadt „mit einer selbstbewußten, gelegentlich zu Ausschreitungen neigenden Arbeiterschaft und einer Erwerbslosenbewegung mit vergleichsweise hohem Organisationsgrad“. Das ist lange her...) Für die Behörden war jener Kunz kein unbeschriebenes Blatt: die Ludwigshafener Polizei identifizierte ihn als den 1888 in Marseille geborenen Georg Victor Kunz, außerehelicher Sohn des dortigen deutschen Generalkonsuls und seiner Hausdame, einer geborenen Kunz. Nach dem I. Weltkrieg tauchte er als Agitator der KAPD (Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands) auf. Die Partei hatte sich 1920 links von der KPD abgespalten und zog vorallem in Berlin den überwiegenden teil der KPD-Mitgliedschaft zu sich herüber. Kunz soll ein „Führer der Reichsleitung“ der „Illegalen Kampforganisation“ dieser Gruppe gewesen sein. Im Herbst 1922 tauchte er in Ludwigshafen auf, jetzt als Agitator der AAU, die sich aus der linksradikalen Austrittsbewegung aus den Gewerkschaften im Frühjahr 1920 gebildet hatte und die revolutionäre Organisierung der Arbeiter auf Betriebsebene propagierte. Sie arbeitete politisch eng mit der KAPD zusammen, hatte aber im direkten betrieblichen Kampf viel mit anarchosyndikalistischen Vorstellungen gemein.

Die Radikalisierung der Erwerbslosenbewegung machte nicht nur den deutschen Behörden Sorgen. Auch die traditionellen Arbeiterparteien SPD und KPD, zusammen mit den Gewerkschaften, hatten Angst, die Linksradikalen könnten ihnen bei den Erwerbslosen den Rang ablaufen. Noch im Frühjahr hatten Unionisten und Kommunisten auf Erwerbslosenkongreßen in Kaiserslautern und Ludwigshafen gemeinsam die sozialdemokratischen „Ledersessel“ - Funktionäre beschimpft. Jetzt zeigten sie in einem gemeinsam mit der SPD und den Gewerkschaften verfassten Flugblatt mit dem Finger auf „gewisse Zusammenhänge zwischen den syndikalistischen Machenschaften und den landesverräterischen Umtrieben der rheinischen Sonderbündler“ (=Separatisten). Dafür gab es Prügel für die Flugblattverteiler, ausgeteilt von syndikalistischen Arbeitern.
Die KPD hatte nämlich unverhofft ihr Herz für den Nationalstaat Deutschland entdeckt - auch im Interesse der sowjetischen Westpolitik, die das UdSSR-feindliche Frankreich nicht zu stark werden lassen wollte. So reihten sich die Kommunisten in die deutsche Abwehr der französischen Besatzung ein, eine Koalition von rechts außen bis fast links...
„Sie wissen es genau - Sie, die Nationalhelden der verschiedensten Gattung kennen uns, wissen nur zu gut, daß wir mit einem Seperatisten-Bischoff (bürgerlicher Pfalzseparatist) nichts gemein haben.“ So meldete sich „Der revolutionäre Vollzugsrat der Erwerbslosen des besetzten Gebietes“ in Ludwigshafen Ende August 1923 zu Wort. Das Gremium war als „revolutionärer Aktionsausschuß“, getragen von KPD und AAU, im Frühjahr 1923 auf einem Erwerbslosenkongreß in Ludwigshafen gegründet worden und wurde immer mehr zur Basis der Syndikalisten und damit des unionistischen Agitators Georg Kunz. Mit bürgerlichen Separatisten wie der Smeets-Gruppe wollten sie nichts zu tun haben, schließlich hatten sie wesentlich weiter gesteckte Ziele: „die deutsche Räterepublik als nächste Etappe der Weltrevolution“! Im Sommer 1923 forderten sie auf Versammlungen und Demonstrationen, an denen mehrere Hundert Anhänger teilnahmen, die „Brechung des passiven Widerstands“ und die „Aufrichtung der Arbeiterregierung“. Vor allem aber ihre direkten Aktionen gegen Beamte der Erwerbslosenfürsorge, die auch schon mal vor ein „Volkstribunal“ zitiert wurden, verschaften ihr Sympathien.
Das Zitat beleuchtet auch das Spannungsfeld zwischen französischen Besatzern, deutschen Behörden und den pfälzischen Linksradikalen. Für Kunz, da vertrat er anarchosyndikalistische Grundpositionen, lag die Ursache der Ruhrbesetzung in dem Versuch des deutschen Kapitals, durch Sabotage der Erfüllungspolitik (sprich: der Zahlung von Reparationen an den ehemaligen Kriegsgegner Frankreich) den Friedensvertrag von Versailles erneut aufzurollen. Dies sei aber eine illusionäre Perspektive und die Lostrennung des Rheinlands vom Reich nur eine Frage der Zeit. Für den revolutionären Arbeiter könne es keine Einheitsfront mit dem deutschen Kapital gegen das französische Kapital geben, sondern nur den Klassenkampf der deutschen Arbeiter gemeinsam mit den französischen Arbeitern gegen die Kapitalisten beider Länder.
Mit dieser Verweigerung des nationalen Schulterschlusses konnten die Anarchosyndikalisten und Unionisten leicht in die Nähe des Separatismus gerückt werden. Tatsächlich hatten anarchosyndikalistische Arbeiter keine Skrupel, unter französischer Regie zu arbeiten (z.B. bei der Eisenbahn, die unter französischer Verwaltung stand), viele sind im Laufe des Sommers 1923 in die lokalen separatistischen Organisationen eingetreten. Von Kunz und seinen Ludwigshafener Genossen aber konnte man aber bis zum Ende des passiven Widerstands nur Distanzierungen von separatischen Bestrebungen hören. In konsequenter Befolgung anarchistischer Grundsätze wollten sie eben überhaupt keinen Staat, auch keinen rheinisch-republikanischen oder freien pfälzischen.
Der französischen Besatzungsmacht brachten sie allerdings unverdient großes Vertrauen entgegen, zumindest anfangs. Als 1921 das Speyrer Rathaus gestürmt wurde, riefen einige Demonstranten „Heute haben wir die Franzosen auf unserer Seite. Hartnäckig hielt sich in linksradikalen Kreisen das Gerücht von französischen Sympathien für ihre Sache.
Die allerdings hatten ein rein instrumentelles Interesse an der Erwerbslosenbewegung: sie förderte zwar aufrührerische Bewegungen wie die separatistische oder die radikaler Erwerbsloser als Mittel zur Destabilisierung, aber sicher nicht mit dem Ziel, ihnen die Macht in der Pfalz auszuliefern. Der französische General DeMetz erklärte öffentlich kategorisch: „Ich wünsche keinen Kontakt zu radikalen Arbeiterführer!“ Warum sollte er auch? Frankreichs Regierung unter Pointcaré hatte sicher kein Interesse an einer kommunistischen oder gar anarchistischen Räterepublik an ihrer Ostgrenze. Die Unruhe, die die nützlichen Idioten Kunz und Genossen verbreiteten, sollte nur die etablierten politischen Kräfte des Rheinlands in die Arme der Besatzungsmacht treiben, die dann im Notfall hilfreich eingriff.

Und das tat sie! Schon 1921, während der wilden Streiks, hatte französisches Militär alle Arbeiterkundgebungen verboten, Zuwiderhandlungen wurden mit dem Kriegsgericht bedroht. Als sich im Herbst 1923 die sozialen Kämpfe verschärfen, sind sie der rettende Strohhalm für die deutschen Machthaber. Anlässe dafür gab es genug: in Neustadt und Frankenthal werden Rathäuser besetzt, in Pirmasens ziehen Erwerbslose durch die Innenstadt und plündern Geschäfte. In Zweibrücken zwingen sie Ladenbesitzer zur verbilligten oder kostenlosen Abgabe ihrer Waren, meist Lebensmittel. Zu Teuerungsunruhen, wie das genannt wurde, kommt es im ganzen Reich. Und in Ludwigshafen?
„Schon seit Wochen wird unter den Erwerbslosen der Gedanke verbreitet, die Polizei zu entwaffnen und sich in den Besitz der öffentlichen Gebäude zu setzen“, so ein Bericht der Stadtverwaltung. Georg Kunz habe kürzlich, bei einem Sturm von Tausenden seiner Anhänger auf das Stadthaus Nord, davon gesprochen: „Schont dieses Haus, es ist ein Volkshaus, in dem wir in wenigen Tagen regieren werden!“ Nicht nur in Ludwigshafen war der Umsturz geplant, der überörtliche „ Revolutionäre Vollzugsrat der Erwerbslosen“ hielt Kontakt zu Genossen in der übrigen Pfalz und in Hessen. Dieser „Vollzugsrat“ sollte die Keimzelle der künftigen roten Republik werden.
Kunz und zwei seiner Genossen werden daraufhin verhaftet, Diebstahl und Hehlerei wird ihnen vorgeworfen. Die Verhandlung am 6. August wird von Hunderten Sympathisanten gesprengt, die Angeklagten werden befreit. Ende August steht wegen einer Verzögerung bei der Auszahlung der Unterstützungsgelder wieder der Sturm des Stadthauses bevor, da greift die Polizei ein. Es gelingt ihr, die Besetzung zu verhindern, das Stammlokal der Bewegung wird geschlossen. Kunz und zwei weitere Erwerbslose werden verhaftet. Der Vollzugsrat versucht vergeblich, sie zu befreien. In dieser Nacht wird in den Straßen Ludwigshafens um die Macht in der Pfalz gekämpft. Obwohl die Aufständischen angeblich von etwa tausend Kämpfern aus dem Frankfurter Raum unterstützt werden, bleibt die Polizei Sieger.
Das war Höhepunkt und damit Beginn des Niedergangs der pfälzischen Erwerbslosenbewegung. Anfang September „untersagt“ der französiche General DeMetz „alles, was Arbeitslose veranstalten könnten oder wollen.“ Das Verbot ist nicht auf Ludwigshafen beschränkt, in der ganzen Pfalz werden „Versammlungen, Aufläufe und Zusammenrottungen“ von Erwerbslosen „zur Vorbeugung von Unruhen“ verboten. Sie hatten ihre Aufgabe erfüllt. Erfolgreich waren sie dabei nicht.

 

Chronik:

  • 8. November 1918
    Gründung des Ludwigshafener Arbeiter- und Soldatenrats

  • 6. - 8. Dezember 1918
    Französische Truppen besetzen Ludwigshafen.

  • 1. Juni 1919
    In den französischen Besatzungsgebieten wird die >Rheinische Republik< ausgerufen.

  • 29. August 1919
    Die Postangestellten Ludwig See und Walter Funk werden von Seperatisten erschossen, als diese das Postamt besetzen wollen.

  • 13. März 1920
    Wegen des Kapp-Putsches verlassen die Arbeiter ihre Betriebe.

  • 18. Juni 1920
    Generalstreik gegen die Nichtfreigabe von drei von den Franzosen verhafteten Arbeiterführern.

  • 31. August 1921
    In Speyer wird aus Protest gegen die revanchistische Haltung Bayerns das Rathaus gestürmt und umdekoriert.

  • 24. August 1923
    Der >Revolutionäre Vollzugsrat der Erwerbslosen< versucht, die Macht zu übernehmen. In den nächtlichen Straßenkämpfen bleibt die Polizei Sieger.

  • 3. November 1923
    Die beiden Polizisten Friedrich Heene und Karl Krämer werden von Angehörigen des Werkschutzes der Ludwigshafener Eisenbahnwerkstätten, wahrscheinlich radikale Erwerbslose in der Nacht zum 4. erschossen.

  • 23. November 1923 bis 6. März 1924
    Ludwigshafen ist von Separatisten besetzt, die Erwerbslosenbewegung wird unterdrückt.

 

Ein Bombenfabrikant, angestellt bei der Bombenfabrik


Einer der wichtigsten Pfälzer Nazis während der Weimarer Republik und dem >3. Reich< war der Polizist Theodor Eicke, ein schönes und lehrreiches Beispiel, wie man in diesem Land Karriere machen kann.

Streik!

Um das zu erleben, müssen wir zurück ins Jahr 1924: Im März dieses Jahres wird in der BASF eine neue Arbeitszeit angeordnet: Der Konzern will jetzt neun Stunden arbeiten lassen, ein dreister Angriff auf eine der letzten Errungenschaften der Novemberrevolution, den Achtstundentag. Am ersten Tag verläßt ein Viertel der ArbeiterInnen nach acht Stunden den Betrieb, am zweiten Tag die Hälfte. Am dritten Tag gehen 80% der Belegschaft. Die Direktion beschließt am Abend des 5. März, alle Arbeiter der Frühschicht des nächsten Tages auszusperren. Viele Beschäftigte kamen am nächsten Morgen ahnungslos vor das Werkstor. Was sie erlebten, schildert der Augenzeuge Erich Steffen, Arbeiter in der BASF, folgendermaßen:
"Mir gegenüber ist das breite hohe Tor verschlossen, Tausende stehen hier bis dicht an die Wände des verriegelten Eingangs. Es ist fast acht Uhr geworden, da, mit einem Mal, bewegen sich die gewaltigen Flügeltüren und gehen langsam nach innen auf. (...)
Kaum 50 Meter vom Tor entfernt, dem Eingang gegenüber, stehen Menschen - Menschen in Uniform - Polizei! Ganz automatisch fällt einem ein, diese sind von der Wache, das Wachgebäude liegt noch auf dem Gelände der BASF und hat einen Eingang zum Werk. Ja, aber was will die Polizei im Werk? Im Bruchteil von Sekunden gehen tausend Gedanken durch den Kopf, ich will zählen, wie viele es sind, da plötzlich ein irrsinniger Schrei - aus der Masse kommt dieser Ruf - die haben ja den Revolver in der Hand!
Die Masse kommt in Bewegung, das Tor ist durch Geisterhände ganz weit geöffnet, und doch geht keiner einen Schritt vorwärts.
Ein Feuerschein springt auf und ehe das Ohr den Schrei erfaßt, rast ein Schrei los, eine salve kracht, die Massen sprengen auseinander. Sie fallen, schreien, drängen nur fort, der Tod springt in die Leiber. Ganz frei ist ist der Platz jetzt auch diesseits vor dem Tor, aber auf dem Boden liegen Proleten auf dem Pflaster, auf dem Rücken den Rucksack, die Kaffeflasche zum Greifen nah. (...)
Noch niemals sah ich einen so vielfachen heimtückischeren Mord, wie diesen hier. Die empörten Arbeiter ließen sich nicht mehr halten. Die Menge drängt zum Tor hinein in den Hof und immer weiter vor. Wie wild feuerten die Polizeibeamten. Zwei Tote, acht Verwundete lagen vor den Toren der Anilin. Die Revolver waren leergeschossen und die Reservemunition ging zu Ende. Jetzt hätte es eine Abrechnung gegeben, wie sie allein das Proletariat ausüben kann. Da nahten die >Retter<. Die Polizeiwache hatte sich hilfesuchend an die Franzosen gewandt, die sofort Truppen entsandten."
Liegen bleiben fünf tote Arbeiter, die Beerdigung mit 25 000 Arbeitern wird zur Demonstration gegen BASF und Polizei. (Die Franzosen hatte sich bereits 1923, beim Aufstand der Ludwigshafener Erwerbslosenbewegung, als Rettung der lokalen Machthaber erwiesen, siehe VATERLANDSLOSE PFÄLZER...)

Zum Zeitpunkt des Massakers war Theodor Eicke Angestellter beim Werkschutz, später bei der Spionageabwehr der BASF. 1923 wechselte er von der Ludwigshafener Polizei zur BASF (sozusagen befördert), jetzt konnte er sich bewähren. Er denunzierte zahlreiche >Rädelsführer< des Streiks, die prompt entlassen werden. Nun beginnt sein unaufhaltsamer Aufstieg, bis 1932 hat er es zum stellvertretenden Leiter des Werkssicherheitsdienstes der BASF gebracht. Die heißt mittlerweile IG-Farben Ludwigshafen. Aber dann muß er leider entlassen werden, denn Eicke tut nach Feierabend seltsame Dinge. 1928 ist er in die Partei eingetreten, kommt 1930 zur SS und wird ein Jahr später Führer der Sturmstaffel 147 in Ludwigshafen.

Rechtsextremer Terrorist

1931 gibt Gauleiter Bürckel ihm und dem SS-Führer Berni den Befehl, Sprengstoff zu besorgen und Bomben herzustellen, auch die pfälzische SA sollte ähnliche Vorkehrungen treffen. Die Faschisten bereiteten sich auf einen erwarteten Bürgerkrieg gegen die KPD vor, denn sie rechneten mit der baldigen Machtübernahme. (Die kam ja auch, nur der Bürgerkrieg leider nicht.) Eickel selbst stellte die Bomben her, insgesamt 80 Sprengkörper. Das Material dazu wurde aus dem Bau 99 der IG Farben Oppau beschafft, wo er sich auf die Hilfe einer Reihe von Parteimitgliedern stützen konnte: Wilhelm Witter (später Kreisleiter der NSDAP Ludwigshafen) war Betriebsführer in diesem Bau, Kemmet (Adjutant der 10. SS-Standarte) war der Schichtmeister., hinzu kamen mehrere Werksmeister des Baus, zum Beispiel Adolf Roth (später Stadtrat von Ludwigshafen).
Die Verschwörung wurde vorzeitigt aufgedeckt, nachdem rivalisierende Fraktionen der NSDAP Pirmasens in der nacht des 21. Juni 1931 eine Bombe zündeten. SS-Führer Berni wurde verhaftet, Eicke blieb bis zum 6. März 1932 unentdeckt. Die Bomben wurden bei einer Durchsuchung seiner Wohnung entdeckt.
Zu seinem Glück gibt es die deutsche Justiz: er wurde im Juli 1932 wegen Vergehen gegen das Sprengstoffgesetz zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, wegen angeblicher Nervenstörung aber für haftunfähig erklärt und für sechs Wochen auf freien Fuß gesetzt. Eicke nutzte dieses Entgegenkommen des Staatsanwaltes und setzte sich nach Italien ab, wo die Mussolini-Faschisten schon an der Macht waren.

Die Beziehung zu seinem Gauleiter war schon vorher keineswegs ungetrübt, auch wegen der üblichen Konkurrenz zwischen SA und SS. (Die SS war bis 1934 formal der SA unterstellt, während dem >Röhm-Putsch< konnte sie sich durch die Ausschaltung der störenden Proleten in der SA profilieren. Erst später wurde sie zu einer Art Elitetruppe, zu der auch adlige und großbürgerliche Faschisten gehören wollten.) Nun war die Parteisolidarität ganz am Ende; Eicke vermutete, Bürckel habe ihn an die Polizei verraten, um einen lästigen Gegner loszuwerden.
In seinen Briefen aus Italien kündigte er seine baldige Rückkehr und ein großes Aufräumen an: "Es wird sich noch mancher wundern über die Generalreinigung, die in absehbarer Zeit einsetzen wird. Vielleicht bleibt dann mancher an seiner eigenen Fangschnur hängen. Haben die Schweine nicht mehr den Mut, offen zu bekennen, daß der Bombenfabrikant E. nach wie vor der Partei angehört, dann sollen sie sich nicht Nationalsozialisten nennen. Wenn ich nach hause komme, und das geschieht recht bald, werde ich sofort wieder die Produktion dieser netten Dingerchen aufnehmen... Sie sind aber nicht alle für den roten Laden, sondern auch für die Schweine in den eigenen Reihen bestimmt."
>Mancher< Gauleiter wird sich also wenig über Eickes Rückkehr im Februar 1933 gefreut haben, er beantragte sogar Polizeischutz. Mit Recht, denn Eicke startete schon nach zwei Wochen einen Putschversuch gegen die Anilinerakademiker, die mittlerweile fast sämtliche Posten in der NSDAP und der Stadtverwaltung besetzt hatten. Deren Politik der Säuberung waren Eickel und seinem SS-Anhang zu vorsichtig, wörtlich: "Nach unserer Ansicht müßte mal gehengt (sic!), und weniger mit Glacéehandschuhen zugegriffen werden." Als sich Eickes ehemaliger Mitverschwörer Wittwer, einer eben dieser IG-Nazis, mit wegzusäubernden Personen im Gebäude der Zeitung PFÄLZISCHE POST befindet, ließ Eicke das Haus von SS-Verbänden umstellen und nahm Wittwer in Schutzhaft. Er kam nicht mehr dazu, offene Rechnungen zu begleichen, denn Gauleiter Bürckel alarmierte die Polizei, die das Gebäude unter Einsatz von Tränengas stürmte und Eicke verhaftete. Eine Menschenmenge Ludwigshafner sah angeblich "honlächelnd dem Abtransport zu!"

Karriere im 3. Reich

Eicke wurde in eine psychatrische Klinik nach Würzburg abgeschoben, alle anderen beteiligten gingen straffrei aus. Aber schon nach drei Monaten war Eicke wieder im Dienst, als Kommandant des KZ Dachau. Himmler ernannte ihn zum >SS-Kommandanten zur besonderen Verwendung<, später sogar zum Inspektor aller deutschen Konzentrationslager. Vorher mußte er sich aber bewähren, auf Befehl Himmlers erschoß er seinen alten Freund Ernst Röhm in Stadelheim.
Er trug wesentlich zur Errichtung und zum Ausbau der Lager Buchenwald und Sachsenhausen bei, dort führte er die mörderische >Lagerordnung< ein. In der Einleitung dazu läßt er seinem Sadismus freien Lauf: "Den politisierenden Hetzern und intellektuellen Wühlern gleich welcher Richtung aber sei gesagt: Hütet euch, daß man euch nicht erwischt, man wird euch sonst an den Hälsen greifen und zum Schweigen bringen. Hier im Konzentrationslager wird jedem Gefangen Gelegenheit geboten, seine innere Einstellung zugunsten einer Volksgemeinschaft auf nationaler Grundlage zu ändern, oder (...) zu sterben."
1942 wurde er General der Waffen-SS, im Februar 1943 an der russischen Front von Rotarmisten erschossen.

 

Die nationale Revolution marschiert durch Ludwigshafen

>Der Sozialismus der dummen Kerle< (August Bebel) - mit diesem Ausspruch kennzeichnete der Sozialdemokrat Bebel den Antisemitismus seiner Zeit, jene dummen Kerle, die ihre wirtschaftliche Not und Unterdrückung >den Juden< anlasteten. Die NSDAP in ihrer Anfangszeit hatte neben ihren rassistischen und nationalistischen Parolen auch einiges an antikapitalistischen, pseudosozialistischen Inhalten zu bieten, gleichzeitig aber auch eine radikale Ablehnung von Kommunismus, von jeder Bewegung, die das Privateigentum in Frage stellte.
Verständlich wird diese Propaganda, wenn wir die soziale Situation ihrer Anhänger betrachten. Der kleine Mittelstand war überproportional vertreten, und dieser wurde von den Monopolen der reichsdeutschen Wirtschaft stark unter Druck gesetzt. Der Historiker Reinhard Kühnl schreibt: "Die antikapitalistischen Stimmungen erreichten bei manchen Gruppen der faschistischen Bewegung eine beachtliche Radikalität. Das Programm der NSDAP von 1920 verlangte >die Schaffung eines gesunden Mittelstandes und seine Erhaltung. Kommunalisierung der Großwarenhäuser und ihre Vermietung zu billigen Preisen an kleine Gewerbetreibende bei Lieferungen an den Staat, die Länder und Gemeinden, die Verstaatlichung aller bereits vergesellschafteten (Trusts) Betriebe und die Gewinnbeteiligung an Großbetrieben.< Noch schärfer wurden die antikapitalistischen Forderungen vom linken Flügel der Partei formuliert: >Der Kapitalismus ist schuld an unserem Elend und muß daher vernichtet werden. Er ist eine Klassenherrschaft, die es duldet, daß eine kleine Klasse von Staatsbürgern über das wirtschaftliche Leben und Sterben" Eine weitverbreitete Forderung mit ähnlicher Ausrichtung war "die Brechung der Zinsknechtschaft", gerichtet gegen die Macht der Banken.

Wie blendend sich die Zinsknechte und Zinseintreiber später verstehen, werden wir noch erleben. In Ludwigshafen wird das besonders in der Beziehung der Faschisten zur örtlichen Zweigstelle des deutschen Chemiemonopols BASF und zum damals größtem Chemieverbund der Welt IG Farben deutlich.
Schon im Sommer 1930 wurde die Gruppe um Otto Strasser und den Kampf-Verlag, die die antikapitalistischen Kräfte in der NSDAP repräsentierte, aus der Partei ausgeschlossen. Nach der Machtübernahme großmaulte der SA-Führer Ernst Röhm noch: "Wir haben keine nationale, sondern eine nationalsozialistische Revolution gemacht, wobei wir besonderen Wert auf das Wort `sozialistisch´ legen." Solche Parolen beunruhigten die Geldgeber Hitlers, also wurden die Anhänger Röhms in der SA und er selbst 1934 durch die neuaufgebaute SS liquidiert - der sogenannte Röhm-Putsch. (Übrigens gibt es auch in Ludwigshafen ein prominentes Opfer dieser Aufräumarbeiten: der bekannte Nationalist Dr. Edgar Jung, der Sekretär von Papens.)
Die faschistischen Funktionäre pflegten aber weiter einen pseudoradikalen Wortschatz mit sozialistischen Phrasen, entweder aus echter Dummheit oder um ihre Anhängerschaft zufriedenzustellen. Die soziale Demagogie war auch deshalb glaubwürdig, weil einige faschistische Führer aus dem Volk kamen: Adolf Hitler, der Sohn eines kleinen Beamten, Gelegenheitsarbeiter und im Krieg nur Gefreiter (später übrigens gegenrevolutionärer Reichswehrspitzel), konnte den "kleinen Leuten" durchaus glaubhaft machen, daß er einer der ihren war.
Ein weniger prominentes Beispiel ist der Nazigauleiter der Pfalz Josef Bürckel. Er gewann Sympathien "durch sein unkompliziertes pfälzisches Naturell - Bürckel sprach Dialekt, war jovial im Umgang und beeindruckte durch seine Trinkfestigkeit." Er gehörte wie die SA und die Politische Organisation der NSDAP in der Pfalz zum >linken Flügel< der Partei.

Die Pfalz als nationalsozialistische Mustergau

Wegen der französischen Besetzung der Pfalz waren die Nazis in der Weimarer Republik vorgeblich in einer eigenen Partei organisiert, in der >NSDAP der Pfalz<. Diese formelle Unabhängigkeit war taktisch bedingt, um von den französischen Militärbehörden zugelassen zu werden. Am 9. April 1926 wurde sie mit der Mutterpartei vereinigt. Ihre Propaganda war einerseits stark auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Pfalz abgestellt, andererseits trugen sie einen deutlichen antifranzösischen und antiseparatischen Akzent. Regelmäßig wurden "politische Feiern zum Gedenken an die großen Kampftage und Ereignisse der Separatistenzeit" veranstaltet.
Gauleiter Bürckel war damals selbst tatkräftig an der Bekämpfung der Pfälzer Separatisten (und Linksradikalen) beschäftigt: 1923 gehörte Bürckel zu einer antiseparatistischen Geheimorganisation in Pirmasens; auch als im Februar 1924 15 Seperatisten in Speyer gelyncht werden, ist er beteiligt. Der oben erwähnte Faschist Dr. Jung aus Ludwigshafen ist ein weiteres Beispiel: er selbst erschoß 1924 den einflußreichen bürgerlichen Separatisten Heinz Orbis.
Nach dem Ende des I. Weltkrieges war die Pfalz als Grenzland in einer wirtschaftlich besonders schwierigen Lage. Inflation und die französische Besetzung führten besonders die bäuerlich geprägten Regionen zu stetig wachsender Verelendung. So blieb die Region bis zum Ende der Weimarer Republik ein Notstandsgebiet mit hoher Arbeitslosigkeit, einem dramatischen Rückgang der gewerblichen Produktion und sinkender Ertragslage der Landwirtschaft.
Die wachsende Verelendung machte die Propaganda der Faschisten gegen >das demokratische System<, von dessen Demokratie sowieso nie viel zu merken war, attraktiv. Die Pfalz galt schon in der Weimarer Republik als vorbildliche Mustergau: noch vor der Machtübernahme waren 18.000 Parteigenossen eingetragen, 1935 waren es über 35.000. Seit 1930 schnitt die NSDAP bei Wahlen immer wesentlich besser ab als im übrigen Bayern und im Reich. Dazu kam, daß die Linken in der ländlichen Pfalz kaum Einfluß erlangen konnten. Auch die explosive (und kurzlebige) Verbindung von linksradikalem Antinationalismus und Seperatismus blieb auf die industriellen Zentren beschränkt.
Bei folgenden Ausführungen ist also zu beachten, daß Ludwigshafen als städtisches Zentrum kaum mit der Situation in der ländlichen Pfalz verglichen werden kann. Hier war proletarischer Antifaschismus wesentlich stärker verbreitet, was sich auch in den Wahlergebnissen ausdrückt: selbst bei den Märzwahlen 1933, als die Nazis ihr Terrorsystem schon größtenteils installiert hatten, lag die NSDAP mit 34,7% mit fast 10% unter ihrem Reichsdurchschnitt. (Organisationsgeschichtlich ist die Kanditatur einer >Liste Linke Kommunisten< interessant, die bei den Stadtratswahlen 1929 3% der Stimmen bekam. Das linksradikale Sammelbecken, hauptsächlich KPD-Dissidenten und ehemalige KAPD-Aktivisten, stellte bis zur faschistischen Machtübernahme zwei Stadträte.) Gerade für Widerstandsaktionen war die städtische Situation besser geeignet als die kleinen ländlichen Gemeinden mit ihrer geringen Bevölkerungsdichte und ständigen sozialen Kontrolle.

Ludwigshafener Nazis ...

Natürlich war die NSDAP auch in Ludwigshafen vorallem eine Mittelstandspartei: Unter den 25 NSDAP-Stadträten im Jahr 1933 findet sich nur ein Facharbeiter, ein Bauer und ein Angestellter, dafür gleich sieben Kaufleute! Die Anhängerschaft der Faschisten war fast ausschließlich kleinbürgerlich-mittelständisch, unter den Funktionären sind aber wegen der IG-Werke in Ludwigshafen und Oppau sehr viele Akademiker. Bereits 1922 waren einige angestellte Akademiker der BASF in der Mannheimer Ortsgruppe der NSDAP aktiv, durch die wirtschaftliche Stabilität und das Verbot der Partei ging ihre Aktivität bis zum Beginn der 30er Jahre zurück, um sich dann massiv bemerkbar zu machen: bei der Machtübernahme stellten sie 41,7% der Funktionäre. Der sogenannte Akademikerflügel verfügte ab diesem Zeitpunkt über erheblichen Einfluß in der Lokalpolitik der Faschisten. Auf der anderen Seite standen die >alten Kämpfer<, hauptsächlich in der Ludwigshafener SS organisiert, denen die Politik des Akademikerflügels gegen Bürgerliche und Unternehmer viel zu zahm war.

... an der Macht

Am 30. Januar marschiert SA und SS in einem Fackelzug durch die Ludwigshafener Arbeiterbezirke. Es finden erste Übergriffe statt. Am 10. März hissen die Nazis die Hakenkreuzfahne auf dem Oppauer Rathaus, als Zeichen der "siegreichen nationalen Revolution". der Sozialdemokrat Hüter versucht, sie von der Fahnenstange herunterzuholen, und wird von dem SA-Mann Schulze mit drei Kugeln erschossen. Am 20. März ist eine der ersten >Amtshandlungen< des Gauleiters Bürckel die Anordnung, sämtliche SPD- und KPD-Bürgermeister zur Niederlegung ihrer Ämter zu zwingen. Schon am Monatsanfang sind die wichtigsten Ludwigshafener Politiker von KPD und SPD ins Frankenthaler Gefängnis gesperrt worden.
Der Terror gegen die Linke war in Bayern (und deshalb auch in der angeschlossenen Pfalz) gründlicher als in den anderen Reichsteilen. In der Zeit von 11. bis zum 13. März waren nahezu 50.000 SA und SS als Hilfspolizisten im Einsatz, im März werden 2.000 Menschen in Schutzhaft genommen, im April sind es schon 5.000.
Obwohl sich die Repression hauptsächlich gegen Kommunisten und Sozialdemokraten richtete, waren auch bürgerliche Kritiker des Systems nicht sicher: in Rheingönnheim wurde der Pfarrer Caroli in der Nacht des 26. Juni vor seinem Pfarrhaus von drei SA-Männern überfallen und bis zur Bewußtlosigkeit geschlagen. Der Ludwigshafener Christ und Nazigegner wurde 1935 aus seiner Gemeinde gedrängt (vor seinem Haus gab es Kundgebungen gegen ihn mit 1.000 Teilnehmern!) und 1942 in Dachau ermordet. Dieses Konzentrationslager gab es schon seit dem 20. März. In der Pfalz kursierte schnell der Spruch: Lieber Gott, mach mich stumm, damit ich net nach Dachau kumm...

Von Dichtern und Denkern

Am 13. Mai veranstalten die Faschisten in Oppau eine Bücherverbrennung, mehr als 500 Bände der örtlichen Volksbibliothek werden verbrannt. Die Flammen fressen neben den Werken bekannter Autoren wie Feuchtwanger, Brecht, Marx, Freud und Geistesverwandtem auch die Gedichtbände der Laundauer Autorin Marta Saalfeld.
Auch wenn sie kaum ein Leser kennen wird, ist ihre Geschichte doch erwähnenswert; vorallem, weil sie effektvoll von einer anderen Pfälzer Biographie kontrastiert wird: die des Neustädter Dichters und Lokalpolitikers Kurt Kölsch (SPD), gestorben 1968 und von der Stadt Neustadt an der Weinstraße mit zahlreichen Ehrungen bedacht.
Im Gegensatz zu Marta Saalfeld, die seit der Machtübernahme >Veröffentlichungsverbot< hatte und nur in die Emigration das III. Reich überleben konnte, hatte Kölsch weniger Schwierigkeiten mit dem einen Volk und dem einen Führer. Ja, der Sozialdemokrat war sogar >Gaukulturwart< und förderte nach Kräften die deutsche Kultur. Zum Beispiel bei einer Versammlung der NSDAP im Pfalzbau, als er der Zuhörerschaft die tiefere Bedeutung der deutschen Volksmärchen erklärt. Unter der Überschrift "Das ist die Fratze des ewigen Juden!" berichtet die örtliche Nazigazette folgendes:
"Kurt Kölsch verstand es denn, die deutschen Märchen in ihrer tieferen Bedeutung als Sendbote geschichtlicher Ereignisse auszuwerten. >Dornröschen< wurde in seiner packenden Darstellung der Schlaf des deutschen Volkes 1918 - 1933 und sein Erwachen am Tag der nationalen Erhebung. >Rumpelstilschen< und >Der Wolf und die 7 Geislein< erstand vor dem Zuhörer als der Kampf der deutschen Seele gegen das Judentum, das als Wolf oder heimtückischer Kobold dargestellt wird. (...)
(Der Deutsche) wäre aus der Geschichte ausgelöscht worden, wenn er sich nicht auf die Reinerhaltung seiner Art besonnen hätte. Nachdem Gaukulturwart Kölsch sich noch mit dem zersetzenden Einfluß der Juden in allen Bereichen von Kunst und Literatur auseinandergesetzt hatte, kam er auf den Gottesbegriff zu sprechen."
Von der einen Arbeiterpartei zur nächsten ist Kölsch später gewandert; verständlich, denn Arbeit ist "dem nordischen Menschen im Gegensatz zum jüdischen keine Last, sondern heilige Bestimmung", wie er an diesem Abend ausführt. Nein, seine Bücher wurden nicht verbrannt...

Das rote Ludwigshafen marschiert

nach Dachau oder in die Emigration nämlich. Auch in dieser Stadt war der Antifaschismus der großen Arbeiterparteien SPD und KPD uneinig und isoliert. Im Februar demonstrierten noch 20.000 LudwigshafnerInnen unter der Parole >Ludwigshafen bleibt rot!< gegen Hitler. Wo waren sie jetzt? Was sollten die ArbeiterInnen Ludwigshafens davon halten, wenn der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund ADGB zur Teilnahme an der faschistischen Großkundgebung zum 1. Mai aufrief? Der Ludwigshafener Widerstand gegen den Faschismus geht unter im Gebrüll der Antisemiten, auch der proletarischen Antisemiten.
Eine besonders unrühmliche Rolle bei der gescheiterten Abwehr des Faschismus spielte die SPD, als sie ihre AnhängerInnen bei der Präsidentenwahl im März 1932 dazu aufrief, für den bürgerlichen Kandidaten Hindenburg zu stimmen, also für jenen altersschwachen Militaristen, der dann die Macht freudig an Hitler weitergab. Daß die Politik der Parteiführung in Ludwigshafen bei der sozialdemokratischen Basis diszipliniert befolgt wurde, zeigt das Ergebnis:
Für Hindenburg 38.866 Stimmen
Für Hitler 12.152 Stimmen
Für Thälmann 10.568 Stimmen

Der Ekel der Sozialdemokraten vor der Revolution führte dazu, sämtliche gemeinsamen Aktionen mit der KPD abzulehnen. Am 31. Januar 1932 erscheint in Mannheim, Ludwigshafen und der übrigen Pfalz ein Flugblatt der Kommunisten mit dem Titel: "Generalstreik gegen faschistische Diktaturherrschaft!". Die Antwort von SPD und ADGB ist der gute Rat, "den Kampf nur auf dem Boden der Verfassung zu führen." Den Lohn für diese Politik erhalten sie dann ab Ende 1933, als die ersten Sozialdemokraten in den KZs und Gefängnissen ermordet und im "Boden der Verfassung" begraben werden. Immerhin werden sie erst drei Monate nach der KPD verboten...
Wesentlich häufiger als die Aktivität in Untergrundorganisationen der Linken ist die Emigration (zum Beispiel nach Spanien, um gegen die Franco-Anhänger zu kämpfen, aus Ludwigshafen kamen immerhin acht Mitglieder der Internationalen Brigaden) oder das stillschweigende Einrichten mit dem System. Und die wenigen aktiven Antifaschisten in der Illegalität hatten mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen; die Kommunisten mehr mit der Aufrechterhaltung eines zentralistischen Parteiapparats beschäftigt als mit militanten Widerstandsaktionen, die sozialdemokratische Basis von ihrer Auslandsleitung mit absurden Handlungsanweisungen versorgt, alle zusammen gejagt von GESTAPO und Spitzeln.

"Bürckel ein Volksfreund?"

fragte ein illegales sozialdemokratisches Flugblatt aus der Pfalz 1935. Daß sie es überhaupt nötig hatten, diese Frage zu stellen, zeigt, daß der nationalrevolutionäre Populismus des Gauleiters bei den Pfälzern durchaus erfolgreich war. Auch das erschwerte den Ludwigshafener Widerstand. Bürckel inszenierte sein Programm mit perfekter Demagogie. Auf einer faschistischen Großveranstaltung auf dem Neuen Meßplatz am 1. Mai, dem >Tag der nationalen Arbeit<, sagte er wörtlich: "Gebt Euch die Hand, ihr alten Gewerkschafter, auch wir geben euch die Hand, auch ihr wart ehrenhafte Kämpfer!"; und viele schluckten das, während in Dachau die ersten ehrenhaften Kämpfer totgeprügelt wurden. Der >rote Gauleiter< stand dem Strasserflügel der NSDAP nahe, die Gau Rheinpfalz wurde sogar "allgemein als Strasser-Gau bezeichnet". "Der deutsche Sozialismus der Tat ist meine oberste Richtschnur", so Bürckel. Was Sozialismus bedeutet, weiß er auch, nämlich: "Wer unser großes Lied >Deutschland, Deutschland über alles< so erfasst hat, daß nichts höher steht als dieses Deutschland, Volk und Land, Land und Volk, der ist ein Sozialist!". Konkreter wird das bei Bürckel glücklicherweise nie...
Obwohl die Parteiführung den >Nationalbolschewisten< noch vor 1933 eine deutliche Abfuhr erteilt hatten und nun mit einer radikal unternehmerfreundlichen Politik das Herz der Oberschicht eroberte, führte der Gauleiter mehrere sozialpolitische Maßnahmen durch, die den Unternehmern gar nicht, der Arbeiterschaft und den Erwerbslosen eher sympathisch waren. Dabei ist zu beachten, daß die >Parteilinke der NSDAP< eine Ideologie vertrat, die mit proletarischem Sozialismus, der die Interessen der unteren Schichten vertrat, nichts gemeinsam hatte. Sie vertraten eine mittelständische Politik, sowohl gegen das Großbürgertum ("Schutz vor der industriellen Konkurrenz und der >liberalistischen Gewerbefreiheit"), als auch gegen die Arbeiterbewegung. Nach der Machtübernahme der Nazis war ihr Ziel entsprechend die "Eliminierung unerwünschter Betriebsformen", denen sie die Schuldan der Notlage des Handwerks und des Kleinhandels gaben: Warenhäuser, Filialgeschäfte, Konsum-genossenschaften und Einheitspreisgeschäfte. So verbanden sich antikapitalistische Existenzängste und antisemitischer Konkurrenzneid zu gewaltsamen Aktionen gegen solche Geschäfte - soweit sie im Besitz von Juden waren!
Der Spuk dauerte nicht lange. Am 7. Juli 1933 verkündete der Stellvertreter des Führers Rudolf Heß auf Druck der Großindustrie: "In Hinblick auf die Allgemeine Wirtschaftslage hält die Parteileitung vorerst ein aktives Vorgehen mit dem Ziele, Warenhäuser und warenhausähnliche betriebe zum Erliegen zu bringen, für nicht geboten. (...) Den Gliederungen der NSDAP wird daher untersagt, bis auf weiteres Aktionen gegen Warenhäuser und warenhausähnliche Betriebe zu unternehmen." In Ludwigshafen entwickelten die Boykottaktionen allerdings eine gewisse Eigendynamik, die sich nicht so leicht stoppen ließ, wie wir noch sehen werden ...

Der >wahre Sozialismus der Tat<

Die militante Mittelstandspolitik, die die Nazi-Anhängerschaft nach der Machtübernahme forderte, führte zu einer großen Boykottwelle, die ihren Höhepunkt im April 1933 hatte. In Ludwigshafen war ihr Ziel vorallem die vier großen Warenhäuser in der Innenstadt Wronker, Rothschild, Brandt und Tietz. Deren Erfrischungsräume (sprich Restaurants) mußten bereits am 13. März schließen.
Oberbürgermeister Ecarius schildert den Vorgang in einem Brief so: "Die Schließung der Erfrischungsräume der hiesigen Warenhäuser erfolgte nicht auf amtliche Anordnung. Es bestand die Gefahr, daß die Geschäfte dazu durch die erregten Volksmassen gezwungen worden wären. Die Geschäftsinhaber haben dann auf eigenen Antrieb die Erfrichungsräume geschlossen." Auch wenn wir davon ausgehen müssen, daß er ein Intersse hatte, den Druck von der Straße zu übertreiben, um den eigentlich >illegalen< Vorgang zu rechtfertigen, so wird doch deutlich, daß diese und ähnliche antisemitischen Aktion große Unterstützung bei Teilen der Ludwigshafener Bevölkerung Der reichsweite >Abwehrboykott< begann in Ludwigshafen früher und dauerte länger als im übrigen Reich, vor allem beschränkte er sich nicht (!) auf die Warenhäuser in "jüdischem Besitz", so erklärte Nazi-Bürgermeister Foerster noch im Juni, daß "der Kampf gegen die Warenhäuser konsequent weiter geführt" werde.
Was Gauleiter Bürckel konkret für die nationalsozialistische Volksgemeinschaft tat, war nicht immer im Sinne der allgemeinen Wirtschaftspolitik der Nazis. So gründete er zum Beispiel die sogenannte >Volkssozialistische Selbsthilfe<, die er in der ganzen Pfalz durch die Kirchenglocken einläuten ließ. Für diese sollten alle Lohn- und Gehaltsempfänger einen Teil ihres Einkommens (bis zu 20%) spenden. Wer sich weigerte, hatte "mit seiner öffentlichen Ächtung zu rechnen, sprich sein Name wurde in der Nazi-Presse veröffentlicht. Nachdem die bayrische Staatsregierung das Programm stoppte und in die reichsweite >Winterhilfe< überführte, ließ Bürckel sein altes Programm unter neuem Namen (Volkssozialistische Gemeinschaft e. V.) mit den selben Praktiken wieder einführen. Dazu verbot er in der Pfalz sogar die NS - Volkswohlfahrt.
Er schreckte noch nicht einmal davor zurück, ins Allerheiligste einzugreifen, in die Privatwirtschaft. Im März 1933 mußte die I.G. Farben auf seinen Druck hin 1.600 Leute zusätzlich einstellen (wobei sie das bei anlaufender Kriegsvorbereitung nicht sehr gestört haben wird); im September selben Jahres versuchte er, die 40-Stunden-Woche einzuführen und die dadurch frei werdenden Arbeitsplätze mit Arbeitslosen zu besetzen.
Gauleiter Bürckel bekam allerdings schnell die Grenzen seiner Macht gezeigt. Als er versuchte, Maßnahmen gegen das große Kapital, vertreten durch die Banken und Warenhäuser, auch gesetzlich umzusetzen, scheiterte er kläglich. Goebbels notiert in seinem Tagebuch: "Ich halte Vortrag über die sozialen Forderungen der DAF (Deutsche Arbeitsfront) und auch Bürckels vor den Kreisleitern. Der Führer ist wütend darüber und will scharfen Erlaß dagegen herausbringen. Bei Tisch große Debatte über Sozialfragen. Ich gehe scharf mit den verantwortungslosen Radikalinski (sic!) ins Gericht."
Nach Hitlers grundsätzlicher Entscheidung für eine Politik der Aufrüstung und für die Großindustrie wurde jeder Eingriffsversuch in die Wirtschaft, auch die Boykottmaßnahmen gegen Warenhäuser, von den oberen Parteigremien abgeblockt. Der Aktionsdruck der mittelständischen Parteibasis wurde abgelenkt auf rein antisemitische Aktionen; allerdings erwiesen sich die antijüdischen Boykottmaßnahmen im Vorfeld der >Nürnberger Gesetze< von 1935 und der >Reichskristallnacht< von 1938 oft als günstige Gelegenheit, auch wieder gegen die Warenhäuser vorzugehen.

Das Pogrom

Die Tatsache, daß die antisemitischen Aktionen der Nazis bei der deutschen Bevölkerung durchaus auf Sympathie stießen, daß der Mob die Machthaber an Rassismus sogar teilweise überbot, wird gerne verdrängt. Besonders die linken Historiker weisen immer wieder auf die zentrale Steuerung der Pogrome und Übergriffe gegen Juden durch SA und SS hin. Damit wird leider nicht erklärt, was in Deutschland, auch in der Pfalz "im traurigen Monat November" geschah. Die Legende, die Mehrheit der deutschen Arbeiterschaft sei gegen Hitler und gegen die Judenverfolgung gewesen, in die "innere Emigration" geflüchtet oder nur durch die blutige Repression niedergehalten worden, ist leider eine solche. So schämen sich zahlreiche Ludwigshafener Geschäftsinhaber nicht, während dem sogenannten >Abwehrboykott< ihre Schaufenster mit Schildern wie "In deutschem Besitz!" oder "Arisches Geschäft!" zu dekorieren.

 

Josef Bürckel
geboren am 30. 3. 1895 in Lingenfeld/Pfalz; 1914 Kriegsfreiwilliger; 1919 Anstellungsprüfung zum Lehrer in Roxheim; 1921 Parteieintritt in die NSDAP; 1926 Gauleiter der Pfalz, 1935 Gauleiter der Saarpfalz; Reichskommissar für die Rückgliederung des Saarlands; 1936 SA-Obergruppenführer, 1937 SS-Gruppenführer; 1938 Reichsstatthalter für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Reich; 1939 Reichsstatthalter in Österreich; 1940 Chef der Zivilverwaltung in Lothringen; 1941 Reichsstatthalter der Westmark (Saar, Lothringen und Pfalz); starb am 28. 9. 1944, wahrscheinlich durch Selbstmord.

Theodor Eicke
geboren am 17. 10. 1892 in Hampont (Lothringen); seit 1921 in Ludwigshafen; zunächst Polizei, dann Werkschutz und Spionageabwehr der BASF; 1928 Parteieintritt; 1931 Staffelführer der SS; 1933 Kommandandt des KZ Dachau; 1934 Inspektor aller deutschen KZ; 1939 Kommandant der SS-Totenkopfdivision; 1942 General der Waffen-SS; erschossen am 26. 2. 1943 in Rußland.

 

 

 

Literatur

...UND HEUTE DIE GANZE WELT - GESCHICHTE DER I.G. FARBEN UND IHRER VÄTER Otto Köhler
Hamburg 1986

GESCHICHTE DER STADT LUDWIGSHAFEN a. Rh. IN DATEN
Siegfried Fauck
Speyer 1972

DER OPPAUER ZUGANG ZUM RHEIN
Initiative zum Schutz der Roßlache
Ludwigshafen 1987

I.G. FARBEN - DIE UNSCHULDIGEN KRIEGSPLANER
Peter Wolfgang Schreiber
Stuttgart 1978

DIE GESCHICHTE DER PFÄLZISCHEN U.S.P.D.
Alfred Hermann
Neustadt 1989

REVOLVERREPUBLIK AM RHEIN - DIE PFALZ UND IHRE SEPARATISTEN
Gräber, Spindler
Landau 1992

DIE PFALZ UNTERM HAKENKREUZ
Gerhard Nestler, Hannes Ziegler (Hrg.)
Landau 1993

PFÄLZER JUDEN UND I.G. FARBEN
Hermann Morweiser
Mannheim

AUCH IN LUDWIGSHAFEN GAB ES WIDERSTAND
Hermann Morweiser, VVN
Ludwigshafen 1982

STATIONEN UND STRUKTUREN DER NATIONALSOZIALISTISCHEN MACHTERGREIFUNG
Lothar Meinzer
Ludwigshafen 1983