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Zwei Meldungen ohne Zusammenhang

Berlin, 21. September: Der Bundespräsident besucht ein bildungsfernes Problemviertel.

Die Kepler-Schule tief in Neukölln war am Mittwoch so weiträumig abgesperrt, dass die Einheimischen auf dem Weg zum Supermarkt Umwege machen mussten. Bundespräsident Horst Köhler hatte symbolträchtig die Hauptschule als angemessenen Ort für seine erste Rede zur Bildungspolitik ausgesucht. Ministerin Annette Schavan gab sich ebenfalls die Ehre, unzählige Journalisten waren gekommen und Polizisten in rauen Mengen, die jeden Baseballkappenträger eingehend und misstrauisch beobachteten. Die politische Klasse besucht den sozialen Brennpunkt; es gehört Mut dazu, in so bildungsferne Gegenden wie das "Berliner Problemviertel" (ZDF) vorzudringen.
"Am 4. Juli haben hier 51 Schüler ihr Abschlusszeugnis bekommen. Nur einer von ihnen hatte zu diesem Zeitpunkt eine Lehrstelle gefunden." So düster begann der ehemalige Direktor des Internationalen Währungsfonds seine Rede, um mit einem optimistischen "Auf geht’s!" zu schließen. Dazwischen entwarf er das Panorama einer Bildungsoffensive in Deutschland, forderte ganz allgemein mehr Geld für die Schulen und ein kostenloses, verpflichtendes Kindergartenjahr. Überhaupt wären Hauptschulen auf besser als ihr Ruf. Auch die Idee eines "soziales Pflichtjahres für alle" gefällt dem Präsidenten, auch wenn er nicht in Einzelheiten ging. Konkret wurde Köhler nur beim Thema Migranten und sprach sich für Sprachtests zu Schulbeginn und Islamunterricht aus.
So blieb Köhlers Besuch in Neukölln symbolträchtig, aber inhaltsleer. Sinn und Zweck einer Bundespräsidentenrede ist bekanntlich auch nicht, umsetzbaren Vorschläge zu machen, sondern Aufmerksamkeit zu wecken und Optimismus zu verbreiten. Es soll wieder einmal ein Ruck durch Deutschland gehen, diesmal durch die Kindergärten und Schulen. Nur ist Köhlers Intervention alles andere als originell; schon lange kommt kein sozialer Misstand mehr öffentlich zur Sprache, ohne dass er mit „Bildung“ verknüpft wird. Es herrscht "Bildungsarmut", "Bildungschancen" sind ungleich verteilt, unter den Migranten grassiert angeblich "Bildungsverweigerung". Diese Redeweise ist darum so erfolgreich, weil frag- und besinnungslos das Problem und seine Lösung von vornherein feststehen. So sagt jeder Beitrag in dieser Debatte, ausgesprochen oder unausgesprochen, die Arbeitslosigkeit ließe sich beseitigen, hätten die Menschen nur die richtigen Qualifikationen und ihre Zeit einen ausreichend niedrigen Preis. Employability soll das Problem sein, nicht Unterkonsumption, nicht Automatisierung. Kaum bemerkt verschiebt sich so der Blick von der Gesellschaft auf den Einzelnen, der sich um seine Tauglichkeit für den Arbeitsmarkt gefälligst selbst zu kümmern hat. Noch jede Strafsanktion der Job-Center verkleidet sich als Trainingsmaßnahme. Kurz: wie das Gerede über "Integration" macht der Bildungsdiskurs den Deklassierten im doppelten Sinn zum Deppen.

Wie das Gerede über "Integration" macht der Bildungsdiskurs den Deklassierten im doppelten Sinn zum Deppen.

Sogar die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hat Köhlers Rede "im allgemeinen" begrüßt. Aber was der fordert, kann das Problem der Hauptschulen nicht lösen. Das liegt an einer grundsätzlichen Schwierigkeit, die Technokraten immer verborgen bleiben wird: ohne freiwillige Mitarbeit findet keine Bildung statt. Die Fähigkeit, komplexe Probleme zu erkennen, zu verstehen und zu lösen, kann nicht das Ergebnis von Dressur sein. Bezogen auf die deutschen Schulen bedeutet das, dass eine auf dem Arbeitsmarkt verwertbare Subjektivität mehr braucht als professionelle Betreuung. Gerade die Fähigkeit, instrumentell zu handeln (sich zu sich selbst als Ware zu verhalten), beruht auf der nicht-instrumentellen Behandlung der eigenen Person. Weil aber die Bereitschaft, zu lernen und sich (sozialverträglich) zu engagieren in vielen Unterschichtsfamilien in den Metropolen kaum noch zu entstehen scheint, greift der Staat immer stärker institutionell ein. Deshalb sollen die Bildungseinrichtungen Sozialarbeit leisten und die nächste Generation erst sozialisieren. Was ist das geforderte verpflichtende Kindergartenjahr anderes als eine frühere Schulpflicht?
Die Strategie, mit Sozialarbeit und "Bildung" rund um die Uhr auszugleichen, was Verarmung anrichtet, wird scheitern. Einen Tag vor Köhlers Rede wies der Deutsche Kinderschutzbund (DKSB) darauf hin, dass heute 2,5 Millionen Kinder in Armut leben müssen, also jeder sechste Minderjährige. Wegen der Hartz – Gesetze hat sich die Zahl seit 2004 mehr als verdoppelt. Heinz Hilgers, der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, zählt die Folgen auf: "Erstens eine erhebliche Reduzierung der Chancen auf einen guten Schulabschluss, zweitens einen mangelhaften Gesundheitszustand bedingt durch schlechte Ernährung etc., und drittens eine verminderte Förderung und Teilnahme an kulturellen Aktivitäten. Hinzu kommt, dass auch das Familienleben problembeladen verläuft und sich negativ auf die Entwicklung der Minderjährigen auswirkt." Köhlers Rede und die Warnung des Kinderschutzbundes, zwei Meldungen ohne Zusammenhang. Während der deutsche Staat einerseits den Heranwachsenden die Lebenschancen gründlich verbaut, sollen sie andererseits von Erziehern und Lehrern zu Hochleistungen animiert werden.

 

Die Rede von Bundespräsident Horst Köhler am 21. September

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