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(erschienen 1996 im 'Flex Digest', Wien)

 

Ich erzähle eine Geschichte: die Rückverdummung hat stattgefunden. Am Ende dieses Jahrtausends durchweht die Ludwigshafener Fußgängerzone Biergestank und der Lärm scheppernder Kassettenrekorder. Die sogenannten Menschen wollen zurück auf die Bäume, aber es sind keine hier; sie stammeln und rülpsen und fühlen sich nicht wohl.
Schade eigentlich, daß dieser Artikel nicht lustig werden wird. Denn wenn er lustig wär’, interessierte er mehr ... Aber das muß alles weg: was nur Platz Platz braucht, was Anstrengung kostet und dabei nur aufhält. Du bist zu alt, geh auf die Straße betteln, wenn du zu langsam bist für die neue Zeit. Eben hat sie angefangen (bekanntlich tut sie das in jedem Augenblick). Und wenn es unterhalten soll, dann muß es ganz geschmacklos, kein Gedanke darf enthalten sein. Spaß und Denken schließen einander aus, es gibt keine Dialektik von Genießen und Lernen.

Wir sind in diese große Stadt gefahren, wo wir immer hingehen: in das Zentrum, zu dem Konzert, in die Disco. Dort sind Menschen, die genauso sind wie wir. Das kennt ihr auch: ihr seid weit weg von daheim und trefft eure Bekannten wieder, mit kleinen Unterschiedene, aber ansonsten „ist der doch genau wie der X“, und dieser da an der Bühne „erinnert mich total an Y“. Überall treffen wir Standardtypen, nur wissen wir in der Regel nicht, daß sie das sind. Menschen mit der gleichen Geschichte, ähnlichen Erlebnissen und Gedanken, sogar ihre Späße sind dieselben.
Millionen sind wie ich. Damals habe ich den Thomas getroffen, er wankte lallend die Treppe hoch, nach draußen. Natürlich war er es nicht wirklich, aber ein Exemplar aus der Menge der Thomase auf diesem Planeten.
Millionen sind wie ich, sitzen vor ihrer Stereoanlange und wühlen in den Platten und Kassetten, sie verbinden die gleichen Lieder mit den gleichen Gefühlen. Sie sitzen vor ihren Computern und wissen nicht, was sie am Abend tun sollen. Ich weiß nicht, ob ich mir aufgefallen wäre, wenn ich mich selbst getroffen hätte. Was hätte ich zu mir sagen sollen?

 

Plakate Brandung Plakate Noch mehr Plakate Immer mehr Plakate Ich will Geld!

 

Vielleicht ist es die Verwechslung von Kultur und wichtiger Kunst, die den Kritikergestus möglich macht. Kultur ist weder gut noch schlecht. Wir benutzen sie alle, wir erzeugen sie alle. Sie entfaltet sich in der Sprache. Im Gegensatz zu Karl Nagel, der außerordentlich seltsame Vorstellungen hat, gibt es keine Menschen ohne Kultur. In einem Fanzine von 1988 habe ich einen Szenebericht aus Indien gefunden. Ich möchte euch erklären, wie wir uns in dieser unüberschaubaren, verwirrenden und oft häßlichen Kultur zurechtfinden, das Schlechte vom Guten unterscheiden und einen Standpunkt einnehmen können. Ich schreibe einen Artikel, der nur aus Schlagzeilen besteht, direkt ins Gesicht:
  Die Welt als Wille, Zwang und Vorstellung
  Warum Kultur scheiße ist
  Wollt ihr alle Kritiker werden?
  Ich kann keinen Punkrock mehr hören

Es ist nicht so, als ob Kultur mein Leben bereichert, sie ist Teil meines Lebens, die Musik und die Literatur und die Comics und die Filme. Sprache ist eines meines Geschlechtsorgane. Sprache ist mein Produktionsmittel. Kannn es weggenommen werden?
Entschuldigung, das war mein Fehler: man darf nicht schneller schreiben, als der Leser denken kann.
Wie kann ich sicher sein mit dem, was ich behaupte? Ich hatte schon früher bestimmte Meinungen und wurde widerlegt. Sie haben es mir erklärt, geduldig, gar nicht wütend über so viel Unverstand. Ich bin nicht verstockt: sie hatten recht, ich habe es eingesehen. Jetzt sind da neue Meinungen, neue Behauptungen und neuer Widerspruch.
Auch was hier geschrieben steht, kann falsch sein. Aber ich muß es endlich wegschreiben, damit ich nicht mehr so denken muß. Raus damit!
Arroganz ist ein Schutz. Niemand wird mir zuhören, wenn ich es nicht besser weiß.
Sprachkritik: dieser häßliche Stil, mustergültig in der Zeitung der Rechthaber vorgeführt. Immer wissen es die Kritiker besser. Die schlechte Grammatik der anderen verbindet sich mit ihren schlechten Ausssagen, sprich: sind so verdorben wie ihre verdorbene Sprache. Also schulmeistern, was die Polemik hergibt. Das ist amüsant, ich mag Polemik, aber heraus kommt dabei: dort sind die Feinde, hier bin ich und die Kultur. Die Seite der guten Sprache. Die Bösen können nicht sprechen. So wird das Gleichgewicht wider hergestellt zwischen Barbarei und Kultur, letztere weiß es besser. Bis dann alles wieder in Ordnung ist.
Es wird Zeit, daß die Belehrungen aufhören. Die bessere Kritik sagt: wohin mich ein Bild mitnimmt, was die Musik in mir auslöst.

 

Katz! Katz!

 

Der soziologische Begriff des Tribalismus beschreibt das Entstehen von Stämmen in hochentwickelten Gesellschaften. Der Zerfall traditioneller Milieus wie der Arbeiterklasse führt zum Entstehen neuer Mikro-Gesellschaften, die sich nach außen klar abgrenzen. Sie bilden sich anhand äußerst unterschiedlicher Muster: sexuelle Orientierung, ethnisches Zugehörigkeitsgefühl, subkulturelle Identität, aber auch Konsuminteressen (z.B. die Star Trek – Fangemeinde). Charakteristisch ist die konkurrenzartige individuelle Profilierung gegenüber der Gesellschaft, was sich unter anderem in der hektischen Suche nach Exklusivität, z.B. Moden, ausdrückt. Dieses Bemühen um individuelles Profil in einer genormten Massengesellschaft äußert sich darüber hinaus in der Distanzierung untereinander: jede Kleinstgruppe muß, um ihren Existenzsinn sichtbar zu machen, Unterschiede zu anderen Kleinstgruppen herausarbeiten.

Das Leben ist ein großer Scheiß,
wenn man es nicht besser weiß

Vier Millionen Menschen sitzen vor dem Fernseher und sehen Harald Schmidt. Vier Millionen Menschen lachen darüber, wie Harald Schmidt die anderen Zuschauer verarscht.
Das Gefühl, den besseren Geschmack zu haben, gehört zum Tribalismus. Deine bevorzugten Platten, Filme oder Bücher sind abgefahren, toll, außergewöhnlich. Die eingebildete Persönlichkeit. Die gekaufte Identität. Wie dumm ist der Satz: so schlecht, daß es schon wieder gut ist. Nichts ist so schlecht, dass es schon wieder gut ist. Zitate ohne Kontext. Die Ästhetik der dummen Kerle.
Schlager, Beat und Disco – der interessante Moment ist der, in dem die Parodie umkippt in echtes Gefühl. Natürlich abgesehen von dieser nostalgischen Gefühlsaufwallung, dem „weißtdunochdamals?“. Mich berührt, was ich wieder erkenne. Warum ist das so erfolgreich? Der Rückgriff auf die Massenartikel aus vergangener Zeit ist so attraktiv, weil er gleichzeitig das elitär Gefühl des Besserwissens und (Besserkonsumierens) und die niederen Instinkte (beispielsweise beim Schlager der Schmerz im Herz) befriedigt.
Mich verbindet eine Hassliebe mit dem Kapitalismus, weil er diese unglaublich bizarren Objekte hervorbringt.

Das Leben ist doch zu kurz, um es an den Reformismus zu verschwenden. Die Kreativen, die Impulsgeber versorgen die Industrie mit Innovation und bekommen nicht einmal Lohn dafür. Der Motor der Entwicklung ist nicht die Musikindustrie, sondern immer noch die Kids. Wer sonst?
Die Verwechslung von "sachlich" und "begrifflich" gibt es auch in der Musik. Eine Platte ist keine Rebellion.
Rebellion ist ein Geisteszustand
eine Verhaltensweise
ein Moment der Instabilität

Was es allerdings gibt sind Dokumente der Rebellion. Genauso gibt es Dokumente der Langeweile, der Verliebtheit etc. Verzerrte Gitarren und Feedback sind keine Rebellion. Feedback ist ein Geräusch. Eine Gitarre ist eine Maschine. Dokumente können wir sammeln.
Das ufert aus, ich kann das Wasser nicht halten.
Ich will mich auch mit schönen Sachen umgeben. Aber warum muß es immer schöner sein, immer besser sein, mehr sein? Mußt du unbedingt mehr Platten haben als ich? Ja?
Ich sammle nicht. Ich mag dieses Bild, ein Freund hat es gemalt. Ich liebe diese Schallplatte, ich habe sie als Teenager gekauft, sie hat mich oft glücklich gemmacht.

Von allen Kleidern die liebsten
Sind mir die gebrauchten
Die Jacke mit Risse und abgetragenem Kragen
Die alte Hose, auch die Schuhe, deren Sohlen
Abgelaufen sind von vielen
Gängen: solche Formen schienen mir
Schienen mir die edelsten
Mit Geld nicht zu bezahlen
Eine eigene Geschichte besitzend
Gebraucht, köstlich
Weil oft gekostet

 

Elektroschnee LCD Elektroschnee

 

In der finstersten Gegend des finstersten Landes weiß ich nach Sonnenuntergang oft nicht, was ich tun soll.
Wie bei anderen Gaststätten ist die Theke der zentrale Ort innerhalb der Kneipe.Im Unterschied zu anderen Lokalen aber muß, wer in der Kneipe steht, nicht unbedingt an der Theke stehen. Es herrscht ein so hohes Maß an Mobilität, daß man den Eindruck gewinnt, der ganze Raum sei zur Theke geworden.
Die hohe Mobilität innerhalb der Kneipe entspricht eine große Fluktuation der Gäste. Wenige nur kommen, um bestimmte Leute zu treffen, mit denen sie verabredet sind; die meistens schauen einfach mal rein und wollen eben nur allgemein „Leute“ treffen. Passen ihnen die, die da sind, nicht, gehen sie in die nächste Kneipe. Denn es ist ihnen weniger wichtig, daß sie jederzeit kommen können als daß sie jederzeit wieder gehen können.
Was treibt Hunderttausende Abend für Abend an einen Ort, an dem sie sicher sein können, andere zu treffen, bei denen sie sich nicht sicher sind, ob sie sie treffen wollen? Sie wollen offenbar nicht nur Alkohol trinken, sondern vor allem Alkohol nicht allein trinken. Wichtiger als das Verlangen zu trinken scheint ihnen ein diffuses Bedürfnis nach Kontakt und diffuser Kommunikation.
Alkohol spielt bei diesem Bedürfnis nur insofern eine Rolle, als daß er es unterstützt und fördert. Wäre Alkoholgenuß das wichtigste Ziel der Kneipenbesucher, könnten sie ebenso gut zuhause trinken. Ihr ungezieltes Kommunikationsbedürfnis sperrt sich gegen den einsamen Bettkantensuff.
Die Kneipe ist ein besonderer sozialer Ort. Sie wird als bergender und schützender Raum empfunden. Als solche hält sie die Mitte zwischen Gruppe und Einsamkeit. Wer in die Kneipe geht, kann sich einer Gruppe zugehörig fühlen, die automatisch entsteht und nict näher bestimmt wird, oder er kann sich allein fühlen. Meist aber wird er beides zugleich empfinden. Und gerade dieses Gefühl von Alleinsein in einer undefiniert gehaltenen Gruppe scheint die Attraktion von Kneipen auszumachen. Wer sich in ihnen aufhält, befindet sich zugleich in einer Gruppe und außerhalb; er hat das Gefühl, irgendwie dazugehören, ohne deswegen behaftbar zu sein. Denn er hat weder Gruppe noch irgendeinem ihrer Mitglieder ein Verpflichtung oder Verantwortung.
Im Gegenteil! Er kann gehen, wann es ihm passt, er kann zu einem beliebigen Zeitpunkt wiederkommen, ohne den Fortbestand der Kneipe zu gefährden. Sie wird weiterhin für ihn da sein, wenn nicht hier und mit diesen Leuten, dann eben anderswo und in anderer Zusammensetzung. Also kann er sich einbilden, daß in der Kneipe endlich einmal nicht die Gruppe über ihn, sondern er über die Gruppe verfügt.
Der Schein dieser negativen Freiheit, die darin besteht, sich einer Gruppe jederzeit entziehen zu können, findet sein Gegenstück in dem Schein einer positiven Zusammengehörigkeit der Kneipenbesucher. Er verleiht den meisten Kneipen etwas Männerbündisches.
Auch jeder Gang in die Kneipe ist eine Flucht aus der Sprachlosigkeit. Insofern hat die Kneipe den minimalen Wiedererkennungswert einer verblaßten Utopie.

 

 

Das Leben ordnet sich nicht deinem "Hedonismus" unter. Das Leben verhält sich nicht von selbst literarisch. Vielleicht ist das die Kunst, das, was stehen bleibt als Schlusssatz: du mußt eine Dramaturgie finden für deine eigene Geschichte! Sie weiterschreiben, daß sie schön wird.
Wir müssen eine Geschichte für unser Leben finden.
Denkt euch zurück in eure Pubertät: wilde Hormonschübe durchrasen eure Körper, sogar in der Großen Pause, euer Gefühlshaushalt ist völlig durcheinander! Aber dieses Leben hat nur Langeweile und Schmerz zu bieten, eine graue Leinwand mit schwarzen Flecken darauf, so sieht es aus! Und dann steht ihr vor dem Tod, das heißt vor dem Leben, das euch geboten wird:
Karriere, Familie, ein beschissen großer Farbfernseher, Waschmaschinen, Autos, Compact Disc Player und elektrische Büchsenöffner, Sonntags morgens einen gewaltigen Kater, alle zwei Jahre in die Sonne, auf dem Sofa sitzen und hirnzersetzende Gameshows anschauen, Chips fressen, zum Schluß langsam verwesen, während du in die Windeln machst, nur noch ein Ärgernis für deine Nachkommen. Ist das alles? Drei Jahre über die Stränge schlagen und dann das Geschäft von Papa übernehmen?
Ich konnte nicht glauben, daß mein Leben sich weigerte, eine literarische Form anzunehmen. Eine Geschichte hat eine Handlung. Eine gute Geschichte hat einen Anfang, eine Mitte und einen Schluß. Meine Geschichte ist immer noch beim Titelblatt.