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Nachhilfe am Bildschirm

(Frankfurter Rundschau, 26. September 2007)

In Deutschland entwickelt sich ein Markt für ergänzenden Unterricht online, anderswo ist diese Form der Nachhilfe schon weit verbreitet. Aber nicht alle Angebote sind pädagogisch sinnvoll.

 

Weil Reiner Kubera seinen Abschluss als Wirtschaftsingenieur möglichst schnell in der Tasche haben will, nimmt er Nachhilfe bei der Mathematiklehrerin Tina Funke. Manchmal sitzen die beiden mehrere Stunden am Tag über den Formeln, die Kubera fürs nächste Seminar lernen muss. Eigentlich eine ganz normale Sache – nur befindet sich der Student währenddessen in seinem Arbeitszimmer in Braunschweig in Niedersachsen; seine Lehrerin dagegen in ihrem Wohnzimmer im ländlichen Nordrhein-Westfalen. Verbunden sind die beiden über das Internet: Über ein Mikrophon sprechen sie miteinander, auf ihren Bildschirmen sehen sie dasselbe. Kubera schreibt seine Rechnungen mit einem digitalen Stift auf ein sogenanntes White Board, eine interaktives Simulation einer Tafel auf dem Computerbildschirm. Tina Funke kann dort zeitgleich ihre Korrekturen anbringen.
Dass er seiner Lehrerin noch nie persönlich gegenüberstand, findet Reiner Kubera nicht ungewöhnlich: “Ich bin flexibel und spare außerdem Geld!” Weder er, noch die Lehrerin haben Fahrtkosten, und sie verabreden sich nach Bedarf, manchmal auch kurzfristig, wenn Kubera die Rechenaufgaben Schwierigkeiten machen. Zusammengebracht hat die beiden Björn Benken, der die “Lernagentur Benken” betreibt. Seine Agentur vermittelt Nachhilfe im Internet für Studierende und Schüler. “Viele belegen die Online–Nachhilfe aus eigener Motivation heraus”, sagt er.
Die Bezeichnungen für solche Angebote lauten “Chat–”, “Online-” oder auch “Long Distanz –Nachhilfe”. Dahinter verbergen sich eine Vielzahl ganz verschiedener Konzepte – und unterschiedlicher Qualität, sagt etwa der Verbraucherschützer Werner Kinziger vom Verein “Aktion Bildungsinformation”. Teilweise wird die Anwesenheit von Lehrer und Schüler möglichst umfassend simuliert, dann wird zusätzlich zur gesprochenen Sprache Bildübertragung über Webcams eingesetzt. Andere Angebote beschränken sich auf betreute Chatrooms und Internetforen. Manchmal werden Buchseiten eingescannt, per Email verschickt und dann gemeinsam durchgenommen. Für die meisten Kunden ist der Preisvorteil entscheidend, denn die Nachhilfe im Netz ist vergleichsweise billig: 45 Minuten sind bei manchen Anbietern schon ab 12 Euro zu haben.
Geld verdienen die Agenturen mit den Vermittlungsgebühren, teilweise auch über die Vermietung der technischen Geräte, zum Beispiel der sogenannte Notetaker, ein auf die Schüler schreiben und zeichnen können. Bei den Nachhilfestunden von “Multiconcept” aus Dortmund brauchen Schüler eine Webcam, einen Kopfhörer samt Mikrophon und ein Telephon. Seit 1991 vermittelt der Geschäftsführer Wilfried Maag Nachhilfe. Das Lernen auf Distanz hat er seit knapp zwei Jahren im Angebot. Maag betont, dass es sich dabei um Einzelbetreuung handelt: “Der Schüler muss immer aufmerksam sein, das ist ein hoch konzentrierter Unterricht!” Einer seiner etwa 100 Kunden befindet sich in Tokyo, viele in ländlichen Regionen in Deutschland.
In Großbritannien und vor allem den USA ist das sogenannte “Online–Tutoring” weiter verbreitet als in Deutschland. Dem Markt dort nutzen zwei Besonderheiten: Zum einen können amerikanische Eltern seit 2002 staatliche Gelder für Nachhilfestunden beantragen, wenn die Schulen ihrer Kinder nicht bestimmte Leistungskriterien erfüllen. Das Gesetz mit dem Titel “No Child Left Behind” hat privaten Nachhilfekonzernen einen gewaltigen Geldsegen beschert: für mehr als eine halbe Million Schüler hat der Staat bisher bezahlt. Zum anderen können die dortigen Bildungsunternehmen auf Lehrkräfte in Ländern wie Indien oder den Philippinnen zurückgreifen. Firmen wie Tutorvista, Growing Stars oder My Tutor betreiben Callcenter, von denen aus Nachhilfelehrer mit den Kinder auf der anderen Seite des Erdballs Mathematik oder Englisch pauken. In Indien setzen solche Unternehmen ungefähr 3,6 Millionen Euro jährlich um, 80 Prozent davon im Geschäft mit den USA. Obwohl in Deutschland diese Konkurrenzvorteile fehlen, könnte der Markt für Online-Nachhilfe auch hierzulande wachsen. Die Kunden sind Studenten, Berufs- und Regelschüler. Schließlich werden Netzverbindungen leistungsfähiger und die nötige technische Ausstattung billiger. Außerdem wächst der Bedarf für ergänzenden Unterricht insgesamt: bereits jeder vierte deutsche Schüler nimmt ihn in Anspruch. Lehrer berichten, dass in ihrem Klassen schon heute viele die ein oder andere Form der Nachhilfe im Internet nutzen.
Wie viele es genau sind, weiß niemand. Staatliche Regelungen und Zertifizierungen (wie das Fernunterrichtsschutzgesetz) greifen in diesem Bereich nicht; schließlich handelt es sich bei Nachhilfe nur um eine “Ergänzung des Schulunterrichts”. Der Fachverband “Forum Distanc-E-Learning” organisiert nur Fernschulen, die Bildungsabschlüsse anbieten, und auch der “Bundesverband Nachmittags- und Nachhilfeschulen” (VNN) hat unter seinen Mitgliedern keine Unternehmen, die ausschließlich Online-Nachhilfe anbieten.
Die Großen auf dem Nachhilfemarkt betrachten die Entwicklung im Internet mit Unbehagen. Kerstin Griese, Sprecherin der bundesweit tätigen Nachhilfeschule “Studienkreis”, erklärt, dass dort meistens nur betreute Foren zu finden seien. “Das kommt nur für gute Schüler in Frage.” Schließlich müssten bei vielen, die Schwierigkeiten in der Schule haben, erst einmal Lernkompetenzen entwickelt werden. Solche Schüler überfordere die größere Autonomie beim Lernen am Rechner. Ungewollt bestätigt das eine Nachhilfelehrerin, die sich über die mangelnde Aufmerksamkeit der Teilnehmer in ihrem Chat beklagt: “Ich weiß ja nicht, was die sonst noch für Programme offen haben!”