Home

Texte

Kommentar

Rezensionen

Radio

Schublade

Bilder

Links

 

Kontakt

 

 

 

 

 

"Nur spekulative Zuschreibungen"
(Junge Welt, 27. 10. 2005)

Soviel Mythos war nie: drei Jahre nach dem lauten Platzen der Finanzblase, die unter Namen wie dot.com oder new economy firmierte, hat sich allenthalben Ernüchterung breit gemacht. Die Euphorie ist verflogen, es herrscht ein Kater, wie er auf wochenlangen Kokainmissbrauch folgt, Ermattung und Ängstlichkeit. Große Teile des Finanztitel wurden in andere Bereiche, etwa den Immobilienbesitz, verschoben, wo sie einstweilen ihrer Entwertung harren. Investiert wird heute dagegen gerne in wenig innovative, dafür krisensichere Bereiche – wie den Lebensmittelhandel! Gegessen werden muß immer.
In engem Zusammenhang mit dem spekulativen Überschuss vor dem Börsenabsturz von 2001 standen ebenso spekulative Überzeugungen. Computer und Internet, die gewaltige Gewinne versprachen, wurden damals von interessierter Seite zum Kern einer neuen Weltwirtschaft erklärt. Noch vor kurzem wurde es in allen Zeitungen, Programmen und Kanälen verkündet: Wissen und Informationsverarbeitung sei zu “der entscheidenden Produktivkraft” geworden, die große Industrie nur noch ein Anachronismus. Die Wende zur “Wissensgesellschaft” stünde unmittelbar bevor und werde sogar bereits vollzogen.
Seit nun die scheinbar magische Selbstvermehrung des Geldes ins Stocken gekommen ist, betrachten auch große Teile der bürgerlichen Öffentlichkeit solche Aussagen mit Mißtrauen. „Was fällt, soll man noch stoßen”, glaubte der Fortschrittsfreund Nietzsche. Zwei Neuerscheinungen in diesem Buchherbstes führen ihre Skepsis schon im Titel: "Mythos Netz" beziehungsweise "Mythos Wissensgesellschaft".
Der Hamburger Sozialwissenschaftler Hans–Dieter Kübler richtet sich mit seinem Buch über „gesellschaftlichen Wandel zwischen Information, Medien und Wissen” vor allem an Studenten. Zwar ist „Mythos Wissensgesellschaft“ nicht die fällige ideologiekritische Studie, aber immerhin eine skeptische Beschreibung, wie sich der Mythos zunächst in der (Populär-)Wissenschaft verbreitete. Auch angrenzende und verwandte Motive der öffentlichen Rede, wie "Risiko" und "Dienstleistungsgesellschaft", nimmt Kübler kritisch unter die Lupe. Sie seien bisher "nur spekulativen Zuschreibungen". Dass die entsprechenden Schlagworte bei Politikern und Journalisten so beliebt sind, habe weniger mit deren Überzeugungskraft als ihrer politischen Nützlichkeit zu tun. Denn sie klingen "neutral, angenehm und verführerisch, technologisch fast zwingend und bar jeden politischen und instrumentellen Interesses". Mehr noch, es sei eines "der grundlegendsten Missverständnisse unserer Zeit", dass die immense und weiter anwachsende Masse von Daten automatisch zu einem besseren Verständnis der Dinge führe. Und überhaupt: menschliche Produktion sei von Anbeginn an niemals ohne die Produktion, Speicherung und Vermittlung von Wissen ausgekommen, mithin sei eben jede Gesellschaft immer auch eine Wissensgesellschaft. Leider bleibt der Autor hier stehen und untersucht weder die Interessen, die hinter den Phrasen stehen, noch die wirklichen Veränderungen in der Produktionssphäre. Aber trotz des vorherrschenden Akademikerjargons und einer ganz neuen und ganz überflüssigen "Typologie der Wissensformen", kann Küblers Buch als Einstieg nützlich sein.
Uneingeschränkt empfehlenswert ist "Mythos Netz" von Rainer Fischbach. Als Mitglied der Studiengruppe "Peace Research and European Security" ist er auch hauptberuflich mit der Abschätzung von technologischer Innovation beschäftigt. Er beschreibt die Geschichte der Metapher "Netzwerk", die seit dem Durchbruch des Internets häufig als Bild für die neue Gesellschaft dient. In detaillierter Auseinandersetzung mit den Futuristen zeigt er, dass Raum und Zeit durch die neuen Technologien keineswegs „aufgehoben“ werden, sondern lediglich neu strukturiert. Ganz anders als die Fortschrittsoptimisten und Technikjünger aber glauben, folge diese Struktur einer "Logik der Spaltung"; keineswegs mache sie die Menschen einander gleicher. Die sozialen Gegensätze, so Fischbachs Prognose, werden nicht in einer künftigen Weltgesellschaft gemildert, sondern im Gegenteil weiter anwachsen.
"Was fällt, soll man noch stoßen", glaubte der Fortschrittsfreund Nietzsche. Heute über den Rausch von gestern zu spotten, als die Kleinanleger wie besoffen ihre Sparbücher gegen Telekom–Aktien eintauschten, hat etwas Geschmackloses. Ganz überflüssig wäre es, gäbe es nicht noch linke Theoretiker, die ihre eigene Variante der Wissensgesellschaft pflegen. Prominente Beispiele sind etwa der Schweizer Sozialist André Gorz, der einen "Wissenskommunismus" propagiert, oder das Autorenduo Negri und Hardt mit ihrem Theoriebestseller "Empire". Ganz ausdrücklich wendet Fischbach sich gegen deren Position, die er für unkritisch hält.

Rainer Fischbach (2005) Mythos Netz: Kommunikation jenseits von Raum und Zeit? Zürich: Rotpunktverlag. 304 Seiten für 22 Euro.

Hans-Dieter Kübler (2005): Mythos Wissensgesellschaft: gesellschaftlichen Wandel zwischen Information, Medien und Wissen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 220 Seiten.

 

Mehr Rezensionen