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Schlechte Pfade

Kann im Kapitalismus der Staat die Richtung der Produktivkraftentwicklung beeinflussen? Der Wissenschaftshistoriker Thomas Wieland glaubt schon.

(2. April 2009, 'Junge Welt')

Man kann auf unterschiedliche Arten Strom durch Kernspaltung erzeugen. Als Rohstoff kann beispielsweise natürliches oder „angereichertes“ Uran verwandt werden. Weil durch die Spaltung Wärme entsteht, müssen die Reaktoren gekühlt werden. Auch das ist auf verschiedene Art möglich. Bis in die 60er Jahre blieb umstritten, welche Vorgehensweise die beste wäre. Dann setze sich in der ganzen Welt der mit angereichertem Uran betriebene „Leichtwasserreaktor“ durch, der vor allem in den USA entwickelt und vermarktet wurde. Trotzdem entschied die deutsche Regierung noch im Jahr 1966, einen „Schwerwasserreaktor“ im bayrischen Niederaichbach zu bauen.
Der Auftrag dazu ging an Siemens. „Bis der Schwerwasserreaktor 1972 in den Probebetrieb gehen konnte, verstrichen nochmals ungefähr sechs Jahre“, schreibt der Wissenschaftshistoriker Thomas Wieland in seinem neuen Buch „Neue Technik auf alten Pfaden?“. „Finanzielle und technische Probleme (führten) immer wieder zu Verzögerungen führten. Problematischer war freilich, dass das Kernkraftwerk bereits bei seiner Fertigstellung als überholt galt. Da es zudem nur ein Viertel seiner vorgesehenen Leistung erreichte, wurde es nach kurzer Zeit vom Erbauer abgeschaltet.“ und Mitte der 90er Jahre wurde das Kraftwerk schließlich abgerissen. „Nachdem für Entwicklung und Bau des Kernkraftwerks knapp 235 Millionen DM ausgegeben worden waren, fielen für den Rückbau und die Entsorgung der Anlage nochmals rund 280 Millionen DM an.“
Kann man das erklären? Thomas Wieland versucht es. Als Schlüsselbegriff dient ihm dabei die „Pfadabhängigkeit“. Dieses Konzept, das vor allem ein amerikanischer Historiker namens Paul A. David entwickelt hat, beschreibt, wie sich technische Alternativen gegenüber anderen durchsetzen. In diesem gesellschaftlichen Prozess – und das ist ebenso umstritten wie entscheidend! – gewinnt nicht immer die überlegenere Technik.
Welcher Reaktortyp weniger störanfällig oder effizienter gewesen wäre, ist demnach nicht ausgemacht, auch wenn der Leichtwasserreaktor sich durchsetzte. Denn laut Davis ist die Einführung und Entwicklung von Technik „pfadabhängig“. Das bedeutet nichts anderes, als dass der bisherige Stand der Einführung die weitere Entwicklung beeinflusst. Je weiter sie fortgeschritten ist, desto schwerer wird es, auf Alternativen umzuschwenken. Die BRD hatte also, als sie auf Schwerwasserreaktoren setzte, den richtigen Zeitpunkt verpasst: die „Pfadwahl“ war längst entschieden.
Davis hat seine Theorie am Beispiel von Schreibmaschinentastaturen entwickelt. Die Standardtastatur, wie sie noch heute gebräuchlich ist, entstand Ende des 19. Jahrhunderts. In den 30er Jahren kam dann das sogenannte Dvorak Simplified Keyboard auf den Markt, mit dem sehr viel mehr Anschläge in der Minute möglich wurden. Trotzdem hatte es keinen nennenswerten Erfolg. Warum? Die Büroarbeiterinnen waren die gängige Tastatur gewohnt; sie umzuschulen hätte Kosten verursacht. Den Schreibmaschinenhersteller hätte der Einstieg in die neue Technik zunächst Kosten verursacht, er war außerdem ein schwer zu kalkulierendes Risiko. Und schließlich profitieren die Konsumenten von dem sogenannten „Netzwerkeffekt“: Gilt eine Technik als Standard, sind beispielsweise Ersatzteile günstig und zuverlässig verfügbar. Solche „positiven Rückkopplungen“ waren und sind dafür verantwortlich, dass „suboptimale Techniken“ gewinnen können – und zwar nicht trotz, sondern gerade wegen des freien Spiels der Marktkräfte. Beispiele dafür gibt es viele, etwa die Spurweite von Zügen, Computerbetriebssysteme, Automobilmotoren oder Videoformate.
Der Historiker und Naturwissenschaftler Thomas Wieland, der am Münchner Zentrum für Wissenschafts- und Technikgeschichte lehrt, wendet nun dieses Konzept auf die deutsche Forschungspolitik an. Seine Beispiele sind brisant: Es geht um die Förderung der Kerntechnik, der Elektronischen Datenverarbeitung (EDV) und der Gentechnik. Als Aufgabe des Forschungspolitik sieht Wieland (wie übrigens auch Davis), möglichst lange die verschiedenen Technik-Pfade offen zu halten, bis ihre Über- oder Unterlegenheit mit einiger Sicherheit beurteilt werden kann.
Zu diesem Zweck kann der Staat nämliches einiges tun: Er steuert die Wissensproduktion an den Universitäten und die Ausbildung der Arbeitskräfte, er gibt bestimmten Forschungsprojekten Geld und anderen nicht, und er tritt in vielen Fällen auch als Käufer auf, ohne den die Entwicklung nicht rentabel wäre (das Paradebeispiel hierfür ist die Waffentechnik). Die endgültige „Pfadwahl“ soll dann aber Wielands Ansicht nach „dem Markt überlassen“ bleiben – was immer das bedeuten soll. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat „Neue Technik auf alten Pfaden?“ finanziell gefördert, und die Funktionäre in den Wirtschafts-, Bildungs- und Forschungsministerien können die historische Untersuchung durchaus als Ratgeber benutzen. Wieland geht so weit, ihnen ihre Aufgaben in Form einer Tabelle aufzuschreiben.
Dass seine Untersuchung (auch) als Politikberatung gedacht ist, tut ihr gut: Sie ist klar geschrieben und geordnet und beschränkt sich aufs Wesentliche. In den drei Fallstudien entsteht nebenbei eine Geschichte der Forschungspolitik der „Bonner Republik“. West-Deutschland tat sich in der internationalen Technikkonkurrenz schwer. Durch Nationalsozialismus und den Aufstieg der USA sah es sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs auf den Rang einer „wissenschaftlich-technischen Mittelmacht“ verwiesen – eine Rolle, mit der sich Manager und Funktionäre nicht abfinden konnten, hatten doch deutsche Wissenschaftler Anfang des Jahrhunderts eine herausragende Rolle gespielt.
So warben AEG und Siemens 1965 um Fördermittel, mit dem Argument, „aufgrund unserer deutschen Tradition“ werde es möglich sein, den technologischen Rückstand gegenüber der USA bei der elektronischen Datenverarbeitung schnell aufzuholen. Die Bundesregierung machte dann auch tatsächlich viel Geld locker, um einen nationalen Champion zu schaffen, der IBM hätte herausfordern sollen. Das war, wenigstens von heute aus betrachtet, ein reichlich naiver Versuch, der allerdings auf eine grundlegende Schwierigkeit der Forschungspolitik verweist. Welche Potenziale eine neue Technik bergen wird, können nämlich Forschungspolitiker ebenso wenig vorhersehen wie Kapitalisten – aber sich von ihren Konkurrenten abhängen lassen, das dürfen sie auf keinen Fall. Und die Kritiker der Wertproduktion? Sie dürfen verwundert den Kopf schütteln über die grundlegende Unvernunft, mit der die Produktivkräfte heute entwickelt werden. Aber nur kurz, dann sollten sie sich überlegen, wie es besser ginge.

Thomas Wieland (2009) Neue Technik auf alten Pfaden? Forschungs- und Technologiepolitik in der Bonner Republik. Eine Studie zur Pfadabhängigkeit des technischen Fortschritts. Bielefeld: Transcript.

 

 

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