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Gegen die Harmoniesucht
Mit seinem neuen Buch streitet Hermann Scheer für erneuerbare Energien und gegen falsche Kompromisse.

In Großbritannien hat Premierminister Tony Blair, unter dem veritablen Jubel des englischen Industrieverbandes, den Bau neuer Kernkraftwerken angekündigt. In Deutschland wird die Regierungskoalition demnächst Biokraftstoffe mit Steuern belegen – Kerosin wird steuerlich einem Treibstoff aus Rapsöl vorgezogen! Die Fördergelder der Europäischen Union für das EURATOM-Programm steigen derweil von bisher 1,2 auf 4,1 Milliarden Euro, und die deutschen Leitmedien überschütten die erneuerbaren Energien gewohnheitsmäßig mit Hohn und Spott – ganz offenbar sind die Zeiten vorbei, als sich die Befürworter einer „Energiewende“ noch als Sieger wähnen konnten. Der rollback zurück zu fossilen Brennstoffen und Atomenergie ist in vollem Gange.
Hermann Scheer, Abgeordneter der SPD und Träger des Alternativen Nobelpreises 1999, ist einer der bekanntesten deutschen Umweltpolitiker. In seinem neuen Buch „Energieautonomie“ lässt er keinen Zweifel daran, dass die erneuerbaren Energien sich letztlich durchsetzen werden. Sogar bei den Energiekonzernen setzt sich die Einsicht durch, dass Peak Oil, der Höhepunkt der möglichen weltweiten Ölförderung, erreicht ist – schließlich wissen Shell und British Petrol am besten, wie groß ihre Reserven tatsächlich noch sind. Der zunehmende Aufwand bei geringerer Förderung wird zu steigenden Preisen führen, während Wind, Wasser und Bioenergie zur attraktiven und schließlich einzigen Alternative werden. Wie sich aber der Übergang gestalten wird, und ob bis dahin irreversible Klimaveränderungen eingetreten sind, ist offen. „Die Welt steht heute vor einer existenziellen Entscheidung“, schreibt Scheer, „der Wahl zwischen >Solar< und >Atom<.“
Geht es um die bisherige Geschichte der erneuerbaren Energien, hat dieses Buch das Zeug, zum Standardwerk zu werden. Detailliert und genau beschreibt der Autor Fortschritte und Rückschläge, benennt Interessensgruppen und politische Konstellationen. Seine Kritik gilt nicht nur der „transnationalen Großmacht Stromindustrie“, sondern auch der erschlafften Umweltbewegung. Sie habe sich einlullen lassen durch das Gerede von einer unbestimmten Nachhaltigkeit und schmeichele sich, sie säße mit den Mächtigen am Tisch. Scheer dagegen wendet sich vehement gegen die energetical correctness, nach der keine Energieform diskriminiert werden darf, und geißelt die deutsche Kompromisskultur, nach der energiepolitische Entscheidungen nur einvernehmlich erzielt werden dürfen. Ganz falsch sei es, Hoffnungen in globale Konsensverhandlungen wie das Kyoto-Protokoll zu setzen. Durch den so genannten Emissionshandel der Konferenz wurde aus der mühsam vereinbarten Untergrenze von 5,2 Prozent weniger Treibhausgasse bis 2012 ein faktisches Maximum. Statt die Austritte klimaschädigender Gase zu verringern, handeln die Nationen mit ihnen. Heute „verkaufen“ Russland und die Ukraine Zertifikate für „Emissionen“, die ohnehin nie stattfinden würden. Für Staaten und Energieproduzenten besteht so kein Anreiz, über das Vereinbarte hinauszugehen. Stattdessen dienen ihnen die Globalverhandlungen als wohlfeile Entschuldigung für weitere Untätigkeit.

Das bisherige System soll weder revolutioniert, noch reformiert, sondern überflüssig werden.

Der „energiewirtschaftliche Komplex“ (Scheer) tut, was er kann, um den Ausstieg so lange wie möglich hinauszuzögern. Gleichzeitig sollen ihm Wasserstoffproduktion und Atomkraft dazu dienen, seine Macht zu erhalten, denn beide Technologien erfordern große Kapitalien und zentrale Anlagen, ebenso große Investitionen in „unkonventionelle“ fossile Energieträger wie Ölschiefer und Ölsand. Dem setzt Scheer sein Konzept der „Energieautonomie“ entgegen: das bisherige System soll weder revolutioniert, noch reformiert, sondern überflüssig werden. Statt neuer Großkraftwerke sollen nach Scheers Vorstellungen viele kleine Stromproduzenten mit unterschiedlichen Methoden den (Eigen-)Bedarf decken. Er fordert Regionalisierung und Anreize für Investoren statt weiterer Zentralisierung und der politischen Einigung mit den bestehenden Mächten, sprich den Energiekonzernen. Die Produzenten erneuerbarer Energie müssen sich durch anlagenbezogene Stromspeicher und Hybridanlagen“ von den Erfordernissen des einheitlichen Stromnetzes befreien. „Nicht der Ausbau von überregionalen Übertragungsnetzen steht dann auf der Tagesordnung, sondern die Regionalisierung und von Netzsystemen durch kommunale und regionale Stromunternehmen.“
In dieser Vision fügt sich beinah alles ganz zwanglos. Nicht nur die Klimakatastrophe kann abgewendet, sondern auch die strukturelle Arbeitslosigkeit im Westen durch eine neue lange Welle – getragen von den innovativen Energietechniken und der landwirtschaftlichen Produktion von Biomasse – beseitigt werden. Die Weltpolitik insgesamt wird friedlicher, denn die führenden Industrieländer sind nun nicht länger gezwungen, die Versorgung mit fossilen Brennstoffen militärisch abzusichern. Das ist zweifelhaft. So nötig die Hinwendung zu erneuerbaren Energien ist, der „archimedische Punkt“ für die Menschheitsprobleme ist sie nicht. Und so kenntnisreich er die Schwierigkeiten und Widerstände des ancien énergie regime beschreibt, so vage bleiben in seinem Entwurf die Akteure, die den Wechsel durchsetzen sollen. Zwar zählt er beinahe alle Industriezweige auf, die sich eigentlich in wohlverstandenen Eigeninteresse vom „energiepolitischen Komplex“ absetzen sollten – unter ihnen die Automobilindustrie, die angeblich prädestiniert ist, in den „Kleinkraftwerksmarkt“ einzusteigen, die Luftfahrtgesellschaften oder die Elektroindustrie. Ob die verschiedenen Kapitalfraktionen das einsehen? Sind sie von sich aus überhaupt zur langfristigen Planung in der Lage? Schließlich haben sich Selbsterhaltung und Vernunft bisher immer nur gegen die Profitinteressen, als oppositionelle Bewegungen Geltung verschaffen können.
Hier dagegen bleibt es bei anti-monopolistischen Forderungen ohne sozialen Inhalt. Aber sogar die ökologische Modernisierung im Westen wurde getragen von einer sozialen Bewegung, die nicht nur die ein oder andere Pflanze retten, sondern die Gesellschaft vom Zwang des Wirtschaftswachstums befreien wollte. So diffus und gelegentlich rückschrittlich-romantisch sich dieser Wunsch auch ausnahm, er war realistischer als auf die Selbsterhaltungstrieb des Kapitals zu hoffen. Das Hoffen aber liegt Sozialdemokraten beinahe in der Natur.

Hermann Scheer (2005): Energieautonomie – Eine neue Politik für erneuerbare Energien. München: Verlag Antje Kunstmann. 320 Seiten für 19 Euro 90.

 

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