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Gerhard Klas (2006): Zwischen Verzweiflung und Widerstand. Indische Stimmen gegen die Globalisierung. Hamburg: Edition Nautilus.

Olaf Ihlau (2006): Weltmacht Indien. Die neue Herausforderung des Westens. München: Siedler-Verlag.

China war gestern, heute ist Indien angesagt. Fernsehdokumentationen, Analysen im Wirtschaftsteil und Reiseberichte zum Thema wechseln einander in schneller Folge ab, und alle fragen: wie lange noch? Wie lange wird es dauern, bis das Land zur Weltmacht geworden ist? Diese Frage stellen sich auch Einheimische. "2014 – Das Jahr, in dem Indien die USA schachmatt setzt" lautet der Titel eines Buchs, das im vergangenen Jahr die Bestsellerliste auf dem Subkontinent anführte. Ein führender General der indischen Armee prognostiziert darin, dass das Land in Kürze die entscheidende weltpolitische Rolle spielen wird. Während seines letzten Staatsbesuchs in Neu-Delhi plädierte Präsident George W. Bush dennoch für eine strategische Partnerschaft "der ältesten mit der größten Demokratie der Erde".
Berufene westliche Experten legen sich bezüglich des Zeitrahmens nicht gerne fest. Mit einem gewissen Schaudern schauen sie auf die asiatischen Giganten und prophezeien den kommenden „Weltkrieg um Wohlstand“. Die globale Ökonomie erscheint als Nullsummenspiel und der Aufstieg der asiatischen Supermächte als "Gefahr und Chance zugleich". Mit Gurgaon und Bangalore entstünden Metropolen, die London und New York angeblich hinter sich lassen werden. Scheinbar herrscht Einigkeit über das Ergebnis, umstritten bleibt, wie weit dieser Prozess schon fortgeschritten ist. Dann wird verwiesen auf die katastrophale Infrastruktur, die ländliche Rückständigkeit, die enorme soziale Ungleichheit. Ein "Land der Extreme" sei Indien – aber wie hängen diese zusammen? Was verbindet die konsumorientierten Jugendlichen der städtischen Mittelschicht noch mit den Stammesangehörigen in den Provinzen, die tief in ihren Traditionen verwurzelt sind?
Olaf Ihlau, langjähriger Korrespondent des "Spiegels", sieht sogar die Gefahr, dass die Nation zerbrechen könnte. Zum erstenmal besuchte er das Land 1978, kurz nach dem Ende des Notstandsregimes Indira Gandhis. Seine neue Veröffentlichung "Weltmacht Indien" enthält die Prognose schon im Titel. Seiner Ansicht nach wird Indien aber nur dann eine weltpolitische Rolle spielen können, wenn es gelingt, die bestehenden inländischen Konflikte zu lösen oder zu entschärfen. Noch nehmen die sozialen, ethnischen und religiösen Auseinandersetzungen zu und werden gewalttätiger.
Der Autor erzählt die indische Erfolgsgeschichte in gängiger Manier. Einst "eine Hochburg der Dritten Welt, ein vom Staatsdirigismus gefesselter Riese" wurde es durch die Öffnung zum Weltmarkt aufgeweckt. 1991 begann der jetzigen Premierminister Manmohan Singh, damals Finanzminister, die Investitionsbeschränkungen für ausländische Unternehmen zu lockern und Staatsbetriebe zu privatisieren. Seitdem wächst die Wirtschaft mit einer Geschwindigkeit, die Europäer neidisch macht und nur noch von der in China übertroffen wird. Dass Indien seine jetzige Position nur durch die Politik der Importsubstitution (und auch den beherzten Verstoß gegen das internationale Patentrecht) erreichen konnte, kommt dem Verfasser nicht in den Sinn. Das ist merkwürdig, schließlich erwähnt er selbst, dass zum Beispiel die Vorzeigekarriere von Azim Premji, dem Besitzer des Computerkonzerns WIPRO, auf einen rüden antiimperialistischen Akt der Regierung zurückging. Premji nutze seine Chance, als IBM im Jahr 1978 aus dem Land geworfen wurde.
Megastädte wie Delhi wachsen jährlich um fünf Prozent und mehr, aber obwohl die Urbanisierung rast leben noch immer etwa 750 Millionen Menschen von der Landwirtschaft – mehr als zwei Drittel der Bevölkerung. Die meisten von ihnen haben von der Entwicklung seit 1991 nicht profitiert, im Gegenteil. Die Verzweiflung und Wut besonders der landlosen Bauern haben den außerparlamentarischen bewaffneten Widerstand wieder aufleben lassen. Verschiedene maoistische Guerillas sind in vierzehn Bundesländern aktiv und kontrollieren dort ganze Distrikte. "Der rote Korridor reicht von den Grenzprovinzen Nepals über Bihar, Jharkhand, Orissa bis nach Andhra Pradesh, Maharashtra und hinunter nach Tamil Nadu", schreibt Ihlau. Für die Politik der Aufständigen hat er kein Verständnis, obwohl sie einen wesentlich größeren Teil der verarmenden Landbevölkerung repräsentieren als die vielen nichtstaatlichen und halbstaatlichen karitativen Organisationen, die mit ihnen konkurrieren. Die Parlamentswahlen vor zwei Jahren haben einen Linksruck gebracht, weil die überwiegende Mehrheit in Indien sich von dem Wahlkampfslogan der Hindunationalisten „Strahlendes Indien“ verhöhnt fühlte. Kopfschüttelnd vermerkt Ihlau, dass die jetzige Regierung United Progressive Alliance zwar den Privatisierungskurs fortsetzen will, aber auf die Unterstützung kommunistischer Parteien angewiesen ist. Das führt zu einem Schlingerkurs. Die Zentralregierung startet umfassende Sozialprogrammen, die den verarmten Massen aber kaum Erleichterung verschaffen, während sie die Wirtschaft weiter für ausländische Investoren öffnet. In "Weltmacht Indien" ist mit Recht die Rede von den "Gefahren für die politische Stabilität, sollte es bei der Privatisierung von Schlüsselindustrien zu Massenentlassungen kommen". Seit 1997 wurden im staatlichen Sektor 4,5 Millionen Menschen entlassen, der private Arbeitsmarkt baute trotz großer Gewinne ebenfalls eine Million Stellen ab – Jobless Growth, ein schwarzer Fleck im rosaroten Indienbild.
Leider gerät die Analyse Olaf Ihlaus zum landeskundlichen Gemischtwarenladen. Trotz kleiner Missverständnisse kennt er das Land, über das er berichtet. Mit vielen interessanten Details geht es um ziemlich alles, was den Westler an Indien interessiert: die verschiedenen Religionen und das Kastenwesen, den Dauerkonflikt mit dem Nachbarn Pakistan und das Verhältnis zu China, um ländliches Brauchtum, den Arbeitsalltag in der Software-Branche, und vieles, viel zu vieles mehr. Weil den Kapiteln der Zusammenhang fehlt, bleibt das Buch eine oberflächliche, wenn auch unterhaltsame Lektüre. Wer aber wirklich wissen will, was die Zukunft für den Subkontinent bringt, kann sich hier höchstens erste Anregungen holen.

Weniger als Ihlau hat sich der Kölner Journalist Gerhard Klas vorgenommen. In "Zwischen Verzweiflung und Widerstand" stellt er dar, wie indische Linke auf den neuen Wohlstand einerseits und die eskalierenden Widersprüche anderseits reagieren. Vor zwei Jahren reiste er durch das Land, um bekannte und unbekannte Aktivisten zu interviewen. Auf seinem Weg sammelt er alle wesentlichen "Stimmen gegen die Globalisierung". Beispielhaft tauchen auf: eine Fischergewerkschaften in Kerala, die Sammelbewegung rund um das Sozialforum, ökologische Bürgerinitiativen, Bauernkooperativen in Andhra Pradesh und auch die verschiedenen kommunistischen Parteien.
Die politischen Kräfte links von der regierenden Kongress-Partei stehen vor einer schwierigen Situation. Zwar wächst die Wirtschaft, gleichzeitig aber auch die Arbeitslosigkeit und vor allem die gesellschaftliche Ungleichheit. Wie darauf reagieren, welche Organisations- und Aktionsformen sind angemessen? Bewusst verzichtet Klas darauf, in dieser Debatte selbst Stellung zu beziehen, sondern lässt seine Gesprächspartner zu Wort kommen. Gerade wegen dieser Rollenverteilung kann er nebenbei viele gängige Klischees widerlegen. Er überzeugt mit Tatsachen. Den Gesprächen vorangestellt sind lebendige Beschreibungen der lokalen Verhältnisse, in denen die Interviewten tätig sind. Dadurch werden ihre Aussagen auch denen verständlich, die nicht mit den Verhältnissen in Indien vertraut sind, ein nützliches Glossar hilft ebenfalls. Die indische Linke, einschließlich ihres kommunistischen Teils, war bisher vor allem eine Sache der Oberschichten. Arundhati Roy gehört ebenso wie alle anderen prominenten Globalisierungskritiker zur höchsten hinduistischen Kaste, den Brahmanen. Bis auf den jetzigen Premier Singh galt das auch für alle bisherigen Staatschefs. Der Übergang von der Kasten- zur Klassengesellschaft ist in vollem Gange, aber längst noch nicht abgeschlossen. Ungefähr 18 Prozent der Inder sind Dalit, Unberührbare und in beinahe jeder Hinsicht benachteiligt. Obwohl formal gleichgestellt bedeutet es für sie in vielen ländlichen Gebieten Lebensgefahr, wenn sie versuchen, ihre Rechte tatsächlich wahrzunehmen. Kaum einer von ihnen spricht Englisch, die Sprache der kolonialen und nachkolonialen Eliten. An der politischen Debatte nehmen sie nicht teil. Stattdessen lebt eine ganze Schicht von Intellektuellen von dem Eindruck, sie könne Auskunft über diesen unbekannten Kontinent geben. Was denken die Bauern, was wollen sie? Die indische Bauernschaft ist ein schlafender Riese. Wälzt er sich unruhig herum, wird man in den Städten nervös.
Gandhi, Marx und Mao sind nach wie vor gemeinsame Bezugspunkte für Klasens Gesprächspartner, gemeinsame Strategien gibt es dagegen kaum. Das hat auch strukturelle Gründe. Auf nationaler Ebene versuchen die beiden großen kommunistischen Parteien CPI und CPI (M) die Rolle eines Wachhundes zu spielen, der die Interessen der Unterschichten insgesamt vertritt – worauf Kritiker meist antworten, der Hund belle zwar gelegentlich, beiße aber nicht. Die unmittelbaren Interessen ihrer Wähler in den industriellen Zentren harmonieren nicht unbedingt mit denen der Bauern. Die beiden Bundesstaaten Kerala und West-Bengal werden seit langem kommunistisch regiert. Trotz der dortigen, für indische Verhältnisse hohen Löhne und mächtigen Gewerkschaften sind sie auch bei ausländischen Investoren beliebt, was auch an laxeren Umweltschutzstandards liegt. Während neue Fabriken für die Arbeitslosen eine neue Existenzgrundlage sind, zerstören sie oft die der ansässigen Bauern und Fischer. Die ökologische Frage hat in Indien eine viel größere Dringlichkeit als in Europa oder Nordamerika, weil ein Großteil der Bevölkerung von intakten Naturkreisläufen lebt. Andererseits wollen manche Vertreter der Bauernkooperativen, die Gerhard Klas interviewt, überholte und wenig produktive Arbeitsformen erhalten. Der marxistische Schriftsteller Govinda Pillai stellt das Problem in einem Satz: "Wir brauchen einen neuen Begriff von Entwicklung, einen, der nicht einfach nur das westliche Modell nachahmt."

 

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