Home

Texte

Kommentar

Rezensionen

Radio

Schublade

Bilder

Links

 

Kontakt

 

 

 

 

 

Wie den Holocaust beschreiben?

Seine letzte Veröffentlichung, "Das Dritte Reich und die Juden", begeistert die Rezensenten und wird als neues Standardwerk gehandelt. Auf der diesjährigen Buchmesse wird ihm der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen werden, nur die letzte in einer ganzen Reihe von Auszeichnungen – für Saul Friedländer interessieren sich längst nicht mehr nur die Historiker. Nun erscheint ein Sammelband mit dem Titel "Den Holocaust beschreiben", mit dessen Hilfe man herausfinden kann, was sein Werk ausmacht.
Nicht alles darin ist neu: Das Buch enthält Auszüge aus Friedländers Gesamtdarstellung der Judenverfolgung zwischen 1933 und 1945, eine Zusammenstellung von Interviews und weniger bekannte Aufsätze. Im Wintersemester 2006/07 arbeitete Friedländer als Gastprofessor in Jena. Dort fand eine interessante Diskussion über die "Sozialpsychologie der Täter" statt, deren Mitschrift ebenfalls abgedruckt ist. Es geht um Methodisches und Autobiographisches, um den Antrieb der Täter und die Reaktionen der Opfer.
Was ist das Besondere an Friedländers Arbeitsweise? Seine Kollegen und historische Laien begeistert gleichermaßen, wie es ihm gelingt, mit großem Überblick die Judenverfolgung und Massenvernichtung darzustellen, ohne jemals die Schicksale aus dem Blick zu verlieren, die in bloßen Opferzahlen nicht erscheinen können. Dabei ist die Perspektive der beiden Bücher "Die Jahre der Verfolgung" und "Die Jahre der Vernichtung" die denkbar umfassendste. Friedländer beschreibt die Aktionen der Deutschen, der ihrer Zuarbeiter in ganz Europa und die vielfältigen Reaktionen der Juden zwischen 1933 und 1945. In dieser Gesamtschau – die unter Geschichtswissenschaftern übrigens lange als undurchführbar galt – wird der Umfang der Vernichtung der europäischen Juden erst erkennbar. Tagebücher und Briefe stehen gleichberechtigt neben den klassischen historischen Quellen wie den amtliche Schreiben und Denkschriften der deutschen Bürokratie. Wie in einem Film wechselt Friedländer immer wieder die Perspektive zwischen Nahaufnahme und der Darstellung aus der Distanz.
Der deutsche Historiker Martin Broszat prägte in den 1980er Jahren den Ausdruck von der nötigen "Historisierung des Nationalsozialismus". Zumal die Einfühlung in dessen Opfer sei fehl am Platz. Darin verbarg sich unausgesprochen die Vorstellung einer historischer Arbeitsteilung, in der deutsche Historiker für politische Strukturen zuständig sein sollten, während die jüdische Erinnerung an die Opfer zwar achtenswert, aber für wissenschaftliche Zwecke unergiebig sei. Friedländer widersprach damals und nennt seinen eigenen Ansatz heute "integrativ", weil dieser die historische Dimension der Opfer mit der der Täter verbindet. Betroffenheit sei schließlich keine Sache nur der Überlebenden und ihrer Nachkommen, "alle Historiker ... müssen genügend selbstkritische Einsicht aufbringen, um ihre Subjektivität unter Kontrolle zu halten".
Lange kreiste die historische Debatte um den Holocaust um die Frage, ob der Vernichtungswille von vornherein feststand, oder ob die Massenvernichtung das Ergebnis von Improvisation und einer Radikalisierung im Verlauf des Krieges war. In dieser Diskussion zwischen den sogenannten Intentionalisten und Strukturalisten betont Friedländer, dass der Holocaust den Nazis und ihren Verbündeten nicht Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck war, der von einem "Erlösungsantisemitismus" angetrieben wurde. Statt breitem Widerstand habe es in Deutschland darüber hinaus im besten Fall "Resistenz" gegeben.
Aus seiner eigenen lebensgeschichtlichen Betroffenheit – der junge Friedländer überlebte die Verfolgung in einem katholischen Kloster versteckt, seine Eltern wurden in Auschwitz ermordet – hat er nie einen Hehl gemacht. Im Gegenteil, im Rahmen seiner Methode wendet er sie produktiv. (Sie speist beispielsweise seine Kritik an den beiden christlichen Kirchen während der Naziherrschaft.) Der Holocaust bleibt für ihn "eine fortwährende Quelle der Fassungslosigkeit". Was er über sein jüngstes Buch sagt, gilt für sein Werk insgesamt: es ist der Versuch, "eine gründliche historische Untersuchung vorzulegen, ohne dieses anfängliche Gefühl völlig zu beseitigen und einzuhegen." Nur eine solche Haltung ist der Geschichtsschreibung des Holocausts angemessen. Dieses Buch ist nicht nur für Historiker interessant.

Saul Friedländer (2007) Den Holocaust beschreiben: Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte. Göttingen: Wallstein.

 

Mehr Rezensionen