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Felix Britannia

Die neuen Antidepressiva sind tief in den britischen Alltag vorgedrungen – obwohl die happy pills längst nicht mehr als unproblematisch gelten.
(WOZ, 10. Februar 2005)

"Alle ganz ruhig bleiben: es ist Prozac im Trinkwasser!" So lautete die makabere Überschrift einer englischen Tageszeitung, als die Debatte um den massenhaften Konsum von Antidepressiva im Herbst 2004 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte. Das britische Umweltministerium hatte berichtete, dass Rückstände des Medikaments Prozac mittlerweile im Grund- und auch Trinkwasser nachweisbar sind. Zwar beeilte sich die Regierung zu versichern, die Rückstände seien „ausreichend verdünnt“ und würden biologisch abgebaut (was manche Biologen bestreiten), dennoch sprachen Umweltschützer von einer „verdeckten Massenmedikation“.
Etwa 24 Millionen Rezepte für Antidepressiva werden in Großbritannien im Jahr ausgestellt (bei einer Einwohnerzahl von 59 Millionen Menschen). Ähnlich wie Östrogene aus chemischen Verhütungsmitteln gelangen deren Rückstände in den Wasserkreislauf und reichern sich dort offenbar an. Die unfreiwillige und unwissentliche Einnahme von Prozac ist allerdings nur ein Nebenaspekt in der Debatte. Seit ihrer Einführung haben sich Antidepressiva wie Prozac weltweit verbreitet. Die Zahl der Verschreibungen steigt überall, doch nirgends so schnell wie in Großbritannien. David Healy von der Cardiff University, ein Experte für Psychopharmakologie, schätzt außerdem die Zahl der Minderjährigen, die Prozac und ähnliche Mittel einnehmen, auf über Hunderttausend.

SSRI – eine Erfolgsgeschichte

Mitte der 80er Jahre brachte die Pharmaindustrie eine neue Klasse der Antidepressiva auf den Markt. Die sogenannten Selektiven Serotonin–Wiederaufnahme–Hemmer (SSRI) beeinflussen den Hirnstoffwechsel des „Glücksbotenstoffs“ Serotonin, wirken aber auch auf andere Transmittersubstanzen wie Dopamin und Noradrenalin. Wie Neuroleptika greifen sie in den Hirnstoffwechsel ein, indem sie den Spiegel des Serotonins steigern.
SSRI werden vor allem gegen sogenannte Depressionen und Hyperaktivität eingesetzt. Unterstützt von massiven Werbekampagnen der Pharmaindustrie entstand in den 90er Jahren eine regelrechte Begeisterung für die angeblich unproblematischen „happy pills“. Mediziner lobten besonders die geringeren Nebenwirkungen und sind erleichtert, dass Selbstmord mit Prozac unmöglich ist. Die nächste Generation der Antidepressiva soll gleichzeitig mehrere Transmittersubstanzen ansprechen und so depressive und neurotische Symptome noch zielgenauer bekämpfen.
Für die Pharmaindustrie sind die SSRI eine beispiellose Erfolgsgeschichte: Zwischen 1997 und 2001 stieg die Zahl der Verschreibungen in Großbritannien von 6,5 Millionen auf 13,3 Millionen. Die Verkaufszahlen lassen auf gewaltige Profite schließen. 1991 gaben die Briten 15 Millionen Pfund für Antidepressiva aus, acht Jahre später waren es schon 395 Millionen. Ein Drittel dieser Medikamente sind SSRI, von diesen wiederum die Hälfte Prozac. Ihren Höhepunkt erlebte die Prozac–Euphorie in den frühen 90ern. Ein weitverbreitetes Ratgeberbuch verkündete damals: „Sie haben sich eine großartige Zeit ausgesucht, um unglücklich zu sein!“ Prozac galt vielen nicht nur als wirksam gegen Depressionen, sondern auch gegen Zwangshandlungen, Übergewicht, mangelnde Konzentration, Eß- und Schlafstörungen und ein niedriges Selbstbewusstsein, kurz: als regelrechtes Allheilmittel. Die Hersteller behaupteten zudem, SSRI lösten keine Entzugserscheinungen aus.

„Sie haben sich eine großartige Zeit ausgesucht, um unglücklich zu sein!“

9 Uhr 30 morgens in London. Tausende sind auf dem Weg zur Arbeit in der Innenstadt, das bedeutet Stoßzeit in jedem Sinn des Wortes. Wenn der Londoner auf einer Bank an seiner U-Bahnhaltestelle sitzt, hat er in letzter Zeit immer häufiger ein riesiges Werbeplakat vor Augen. Darauf ist ein Mann im Anzug und mit Aktentasche zu sehen. Erschöpft lässt er die Schultern hängen. „Gestresst? Abgespannt?“, fragt das Plakat, „come on, get happy!“. Es wirbt für einen “kraftvollen Stimmungsaufheller”.
Es sind nicht nur die suggestiven Werbekampagnen der Pharmaindustrie, die die Briten zu Prozac und Seroxat treiben. Die Briten arbeitet unter den Europäern am längsten. Trotz erster Rezessionsanzeichen versuchen viele an ihrem Lebensstandard festzuhalten, den sie nur durch Mehrarbeit und Verschuldung finanzieren können. Immer mehr Schüler greifen während ihrer Abschlussprüfungen zu Prozac.
Viele Briten glauben heute, ohne Therapie oder Stimmungsaufheller ihren Alltag nicht mehr bewältigen zu können. Zwar steigt die Zahl der Beratungsangebote, aber längst nicht so schnell wie die Nachfrage. Graham Archard, der stellvertretender Vorsitzender des Royal College of General Practitioners, einer akademischen Vereinigung der Hausärzte, beschreibt die schwierige Situation der Ärzte: „Wir stehen da vor einem Dilemma: weil Plätze für Psychotherapien knapp sind, haben wir oft keine andere Wahl, als in leichten bis mittelschweren Fällen Antidepressiva zu verschreiben.“
Beflügelt vom Heilsversprechen der Pharmaindustrie, das Leiden an sich aus der Welt zu schaffen, verbreiteten sich vereinfachende Vorstellungen über die biologischen Grundlagen seelischer Krankheiten. Es entstand eine Art neue Säftelehre, die statt dem Ineinander von Körper, Geist und Seele den manipulierbaren Stoffwechsel zum Prinzip erhob. Nach ihr ist der wesentliche Grund für Depressionen eben die Unterversorgung mit Serotonin. Was einst als Persönlichkeitsmerkmal oder Reaktion auf bestimmte Lebensumstände galt, erschien nun als Krankheit, aus Schüchternheit wurde eine “Sozialphobie”, ausreichend als Indikation, gefolgt von der Medikation. Nun gelten Depressionen zwar als behandelbar, in der Regel aber auch als unheilbar. Abgesehen von einer kleinen Patientengruppe, deren Depressionen Episode bleiben, werden sie immer häufiger chronisch.
Den Biologismus vertritt kaum noch jemand öffentlich. Selbsthilfeorganisationen, Politiker und Psychiater sind sich einig, dass die Depression mit allen, auch gesprächstherapeutischen, Mitteln bekämpft werden muss. Aber was ist es eigentlich, das da bekämpft wird? Seit den 80er Jahren hat sich auch der Begriff der Depression selbst gewandelt. Statt als Symptom eines inneren Konflikts erscheint die Depression immer mehr als behandlungsbedürftige Hemmung. Kein Zufall, dass die Diagnose Depression seit den 80er Jahren explosionsartig zugenommen hat, wurden doch in dieser Zeit Empathie und Offenheit, vor allem aber Flexibilität und Leistungsorientierung zu Grundanforderungen der britischen Gesellschaft. Die Handlungsunfähigen, Erschöpften und Zweifelnden wurden sich selbst zum Problem.
Das britische Royal College of Psychiatrists schätzt, dass jeder fünfte Mensch irgendwann in seinem Leben unter “klinischer Depression” leidet. Andererseits hält die Vereinigung folgendes für Symptome einer Depression: “Langsam arbeiten, vermehrt Fehler machen, mangelnde Konzentration, nicht zur Arbeit kommen, Streit mit Kollegen”. Genau kalkuliert das Gesundheitsministerium und schätzt den volkswirtschaftlichen Schaden durch seelische Krankheiten auf über acht Milliarden Pfund. Diese Summe enthält nicht nur die Kosten der Behandlung, sondern auch Posten wie “versäumten Arbeitstage” und “Arbeitslosigkeit”.

Ein Stimmungsumschung findet statt.

Prozac spielt heute im britischen Alltag jene Rolle, die Valium in den 50er und 60er Jahren inne hatte: die einer Alltagsdroge. Die Konsumenten finden sich in allen Klassen und Regionen; arbeitslose Schotten möchten auf ihr Prozac so wenig verzichten wie erfolgreiche Londoner Geschäftsfrauen. Es kursieren Witze über Prozac; Prominente bekennen sich zu ihnen. Vom Stigma der Geisteskrankheit sind die Konsumenten weitgehend befreit. Es ist ein bekanntes Muster in der Geschichte der Psychopharmaka: auf Euphorie folgt Ernüchterung. Auslöser des Stimmungsumschwungs in der britischen Öffentlichkeit war eine Serie von Skandalen rund um das SSRI Seroxat. Das Medikament wird von der amerikanischen Firma Glaxo–Smith–Kline (GSK) hergestellt, dem Hauptkonkurrenten des Prozac-Herstelles Eli Lilly. GSK versuchte, neue Käuferschichten zu erschließen und den Seroxat–Umsatz von einer Milliarde zu verdoppeln, indem gezielt Käufer beworben wurden, die “nicht im klinischen Sinne depressiv sind”, so Professor David Healy.
Schlimmer noch, offenbar hat der Konzern mögliche Langzeitnebenwirkungen heruntergespielt, die nun nach und nach bekannt werden. Eine Verschlimmerung von Depressionen durch und Abhängigkeit von SSRI sind offenbar nicht ausgeschlossen. Daraufhin stellten viele Kommentatoren und Selbsthilfeorganisationen wie MIND die Frage, wie Pharmakonzerne überhaupt einen solchen Einfluss auf Forschung und Zulassung ausüben können. Schlechte Erfahrungen mit Seroxat hat auch Ben gemacht. Erst 12 Jahre alt war er, ein eher unauffälliger Schüler in einer mittelenglischen Kleinstadt, als er das Mittel zum ersten Mal nahm. Nach ihrer Trennung von Bens Vater, kam seine Mutter nicht mehr mit dem unruhigen und rebellischen Jungen zurecht. “Meine Leistungen in der Schule wurden immer schlechter”, erzählt Ben. “Eigentlich war ich ein guter Schüler gewesen. Als ich dann in der 10. Klasse sitzen blieb, brachte mich meine Mutter zu einem Arzt, der mir Seroxat verschrieb.” Aber die Tabletten hatten einen gegenteiligen Effekt. Statt ihn zu beruhigen, litt er unter massiven Nebenwirkungen wie Unkonzentriertheit und Wutanfälllen. “Wir wechselten also auf Prozac. Damit kam ich besser klar.” erzählt Ben.
Ben hat seine ganze Pubertät unter dem Einfluss von Antidepressiva erlebt. Als er nach seinem Schulabschluss versuchte, das Medikament abzusetzen, überkamen ihn Selbstmordgedanken und Verzweiflung. “Ich dachte nur: ich will meine Tabletten zurück!” Heute nimmt er immer noch Prozac, wenn auch in einer geringeren Dosis. Außer der Beratung durch seinen Hausarzt hatte er sieben Jahre lang keinerlei ärztliche Betreuung, bis er schließlich nach London zog, wo er eine Gesprächstherapie begann. “Manchmal habe ich das Gefühl, mir sei etwas gestohlen worden”, sagt er bitter. “Jahrelang habe ich ein Mittel genommen, das ich nicht wirklich nötig hatte. Erst die Therapie hat mir geholfen.” Auch Zoë machte ihre ersten Erfahrungen mit SSRI als Teenager. Aber im Gegensatz zu Ben hält sie deren Wirkung für ausgesprochen wohltuend für ihr Leben. “Diese ganze Diskussion, ob Medikamente oder Therapien besser sind, ist doch nur eine Scheindebatte! Es kommt auf die richtige Verbindung an.” Sie jedenfalls ist dankbar, dass es Prozac gibt. “Ich wäre sonst nicht mehr hier”, sagt sie. Schlimm findet sie nur die Einschränkung des sexuellen Lustempfindens, eine Nebenwirkung der Medikamente.
Bei Tee und Keksen erzählt die 24jährige Londonerin, wie erleichtert sie war, als ihr der Hausarzt erklärte, ihre Depressionen seien vor allem biologisch bedingt, eine Mangelerscheinung. “Ich war so froh. Es gab ja keine wirklich traumatischen Erfahrungen in meiner Kindheit, keinen sexuellen Missbrauch, keine häusliche Gewalt. Jetzt war mir klar, dass ich einfach krank war, so wie andere an einer Schilddrüsenüberfunktion leiden.” Zoë betont: “Diese Mittel machen nicht euphorisch, sie berauschen mich nicht. Ich bin immer noch ich selbst. Nur wenn ich meine Tablette nicht kriege und meine Gedanken anfangen, im Kreis zu rennen, dann bin ich nicht ich selbst!”

 

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