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Der Erbe

Anthony Blair tritt ab und darf zufrieden sein: er hat vollendet, was Margaret Thatcher begann.
(Konkret, August 2007)

 

Am Ende gab es stehenden Beifall für Anthony Blair, natürlich. Bei seiner letzten Unterhaussitzung am 27. Juni bedankte er sich noch einmal in alle Richtungen, äußerte ansonsten die üblichen Allgemeinplätze und eilte nach Hause, um in den Zeitungen nachzulesen, worin seine historische Leistung bestanden hat – über ehemalige Machthaber nichts außer Gutes. Sein Rücktritt war überfällig. Durch die Propagandakampagne zur Vorbereitung des Irakkriegs war Blair im wahrsten Sinne des Wortes die "Glaubwürdigkeit" abhanden gekommen. In letzter Zeit war seine Regierung bei Gesetzesinitiativen (wie der zu Hochschulgebühren) mehrmals auf die Stimmen der Konservativen angewiesen – äußerst ungewöhnlich für das britische politische System, das in aller Regel klare Mehrheiten hervorbringt. Aber obwohl Blair für seine Partei immer mehr zur Belastung, schließlich sogar zur Peinlichkeit wurde, klammerte er sich hartnäckig an seinen Posten. Nach den für Labour katastrophalen Kommunalwahlen im vergangenen Jahr begannen dann sogar Teile seiner eigenen Entourage, sich öffentlich von ihm zu distanzieren.
Der neue Premier Gordon Brown zollte seinem Vorgänger während des Abschiedsauftritts artig Respekt. Als Vertreter des rechten Parteiflügels der Labour Party waren die beiden bis zum Wahlsieg 1997 eng verbunden. Intern vereinbarten sie, dass Brown der nächste Parteiführer nach Blair werden sollte. Als Finanzminister war er der eigentliche Architekt der Wirtschafts- und Sozialpolitik New Labours, deren Programmatik Blair in der Öffentlichkeit darstellte. Bei der Auseinandersetzung zwischen ihnen ging es nicht um politische oder auch nur strategische Unterschiede, sondern ausschließlich darum, wann Blair die Macht an den ungeduldigen Thronerben weiterreichen würde. Zum Regierungschef wurde Brown ohne jede Abstimmung. John McDonnell vom "linken Parteiflügel" hatte zwar eine Gegenkandidatur angekündigt, konnte aber nicht genügend Abgeordnete finden, die seine Kandidatur unterstützten – ein Beleg für den Zustand der Partei, in der altmodische Sozialdemokraten nichts mehr zu sagen oder zu suchen haben.
Der neue Premier bemühte sich bei der Regierungsbildung um eine breite Allianz und bedachte auch potentielle Konkurrenten mit Posten. In der Öffentlichkeit spricht er von Wandel, der nötig sei, distanziert sich andeutungsweise von seinem Vorgänger und führt dessen Politik fort. Die Privatisierungen gehen weiter; profitable Teile des öffentlichen Sektors, d.h. bestimmte Krankenhäuser und Bildungseinrichtungen, sollen für private Investitionen geöffnet werden. Ansonsten handhabt die britische Regierung weiter die soziale Krise, die sich zum Beispiel in der fortschreitenden Ethnisierung der sozialen Widersprüche zeigt, oder in den unmenschlich überfüllten Gefängnissen, in denen 80.000 Menschen eingesperrt sind, mehr als in jedem anderen europäischen Land. Großbritannien hat im europäischen Vergleich noch mehr Rekorde vorzuweisen: die längsten Wochenarbeitszeiten, die größte Ungleichheit, die meisten Kinder in Armut. Das anhaltende Wachstum beruht zu einem Gutteil auf privater Verschuldung und einem stark überbewerteten Immobiliensektor. Sollte die housing bubble demnächst platzen, wird das Ergebnis massenhafte Verarmung sein. Insofern war die Wirtschaftspolitik New Labours bestimmt ein "unbestreitbarer Erfolg", wie nach seinem Rücktritt in Großbritannien und noch häufiger im Ausland zu lesen war. Es fragt sich nur, für wen.
Offiziell liegt die Arbeitslosigkeit bei nur 5,5 Prozent, in Wirklichkeit sind viele Menschen unterbeschäftigt und leben halb von staatlichen Zuschüssen, halb von schlecht bezahlter Teilzeitarbeit. Im Juni meldete der Guardian, dass Wirtschaftswissenschaftler von der Universität Sheffield die Arbeitslosigkeit für dreimal so hoch halten wie offiziell behauptet. Etwa 1.7 Millionen Menschen tauchen in den Statistiken der Regierung gar nicht auf. In einigen Städten, besonders im Norden, Schottland und Wales, beträgt die Rate mehr als zehn Prozent. Die Beschäftigungsquote liegt in Großbritannien bei 72,6 Prozent, mehr als in allen anderen vergleichbaren OECD-Staaten. Die Regierung reagierte auf diese Nachricht mit der Ankündigung, sie strebe 80 Prozent an. Das will sie unter anderem durch eine sogenannte Reform der Behindertenversorgung erreichen. Durch die incapacity benefits ("Arbeitsunfähigkeitsbezüge") konnten bisher einige Briten immer noch staatliche Gelder beziehen.

Der große Kommunikator

Die britische Linke eint nichts so sehr wie der Hass auf Anthony Blair. Besonders seit dem Angriff auf den Irak forderte sie immer wieder: "Blair muss weg!". Aber ihre personalisierende Kritik am "Kriegstreiber" geht in die Irre. Jeder andere britische Premierminister, ob konservativ oder sozialdemokratisch, hätte die Kriege der Vereinigten Staaten unterstützt, um die sogenannten "besonderen Beziehungen" nicht zu gefährden. Die herrschende Klasse Großbritanniens weiß, dass sie nur als Juniorpartner der USA Weltpolitik betreiben kann; nur eine kleine und vergleichsweise einflusslose Minderheit setzt stattdessen auf europäische Integration und Gegenhegemonie. Genauso waren die Vorgaben in der Innenpolitik klar und wären von einem anderem Regierungschef kaum anders umgesetzt worden. "Hätte er denn die Einsenbahn wieder verstaatlichen können, selbst wenn er gewollt hätte?", fragte eine Zeitung in ihrem Resümee der Amtszeit Blairs. Britische Kommentatoren versuchen nicht, ihren Lesern einzureden, eine Politik gegen die Interessen der City sei möglich.
Was war also das Besondere an der Ära Blair? Die gängige (Medien-)Version der Geschichte geht ungefähr so: der "Publikumsliebling Tony" modernisiert entschlossen die Arbeiterpartei, richtet sie auf die "Neue Mitte" aus und führt sie so zum Erfolg. Das ist in großen Teilen falsch. Tatsächlich konnte sich die Labour Party nie länger als eine Amtszeit an der Macht halten, während sie unter Blairs Führung drei Parlamentswahlen hintereinander gewann. Das lag aber weniger an der überwältigen Kraft des Konzepts Neue Mitte / New Labour, sondern erklärt sich aus den Besonderheiten des britischen Wahlsystems und der Großen Koalition in Gestalt des Parteivorsitzenden.
Bei der "vernichtenden Wahlniederlage" Labours unter Michael Foot im Jahr 1983 stimmten 8,5 Millionen Briten für Labour (und damit, nebenbei, für ein Programm, das Verstaatlichungen "wenn nötig", einen Fünfjahresplan und den Ausstieg aus der Kernenergie und der Europäischen Gemeinschaft forderte). Bei den Parlamentswahlen vor zwei Jahren bekam Labour nur eine Million Stimmen mehr und gewann. Blair besetzte bewusst und prinzipienlos alle Themen, mit denen die Konservativen ihn in Bedrängnis hätten bringen können. In seiner Selbstdarstellung verband er Pfäffisches und Rebellisches und gab sich je nach Bedarf autoritär oder liberal, wertkonservativ oder subkulturell. Diese Strategie war erfolgreich, weil die Labouranhänger ihre Partei trotzdem wählten.
Nicht Blair, sondern sein Vorgänger Neill Kinnock schaltete die Linke innerhalb der Labour Party aus, etwa die trotzkistische Strömung Militant. Heute finden innerhalb der Partei weder Opposition, noch Debatte statt. Britische Regierungen sind immer durchsetzungsfähig, solange sie die Disziplin ihrer Parlamentsfraktion durchsetzen können. Blair aber entmachtete Fraktion und Parteigremien wie kein Premier vor ihm. Stattdessen setze er zahllose "Expertenkommissionen" ein, deren Mitglieder mehr Einfluss ausüben konnten als ein gewählter Abgeordneter. Die Partei ließ es sich gefallen, weil der ungeliebte Parteichef Mehrheiten garantierte. Nach der Wahl am 9. Juli 1983 sagte Neill Kinnock, Michael Foots Nachfolger: "Ihr dürft niemals den schrecklichen Morgen des 10. Julis vergessen. Erinnert euch daran, wie ihr euch an diesem Morgen gefühlt habt und sagt euch: der 9. Juli darf sich niemals wiederholen!" Die Verhinderung der Wahlniederlage und ihrer Ursachen wurde in den 1980er Jahren nicht nur für Blair zur obersten Prämisse.
Ausländische Politiker wie Gerhard Schröder beeindruckt besonders, wie professionell Blair seine Politik in der Öffentlichkeit verkaufte. Er inszenierte Politik mit so großem Aufwand, dass ein Pressesprecher Ministern detaillierte Anweisungen gab, welche Worte und Argumente sie den Medien gegenüber zu verwenden beziehungsweise zu vermeiden hätten. Die sogenannte Strategic Communications Unit, die Pressestelle unter Leitung des ehemaligen Boulevardjournalisten Alastair Campbell, war ein wichtiges Instrument, mit dem Blair den Parteiapparat kontrollierte. Aber selbst die Professionalisierung der politischen Kommunikation war nur in einem sehr eingeschränkten Sinn, nämlich kurzfristig ein Erfolg. Auch wenn die politische Klasse heute die Sprache der Werbung benutzt und gewaltige Summen für ihre Kampagnen aufwendet, kann sie keinen gesellschaftlichen Konsens herstellen. Die Briten reagieren mittlerweile auf die medialen Manöver mit unübertrefflichem Zynismus. Worte wie "jung", "durchgreifend" und "Wandel" haben sie seit 1997 so oft hören müssen, dass es ihnen für die nächsten hundert Jahre reicht. Mehr noch, New Labour hat das politische System in Gänze diskreditiert. An Parlamentswahlen beteiligen sich nur noch etwa 60 Prozent der Bevölkerung. Die "gelenkte Mediendemokratie" Blairs und Campbells beruht auf Passivität, nicht Zustimmung.

Erbe Margaret Thatchers

Unter Anthony Blairs fanden wichtige Reformen statt, etwa die Regionalisierung des britischen Staates. Darüber hinaus ließ er einige Kriege führen. Seine eigentliche Leistung aber bestand darin, die Ergebnisse der sozialen Konterrevolution abzusichern, die Margaret Thatcher begann. In ihrer Politik mischten sich Neoliberales und Neokonservatives, sie war marktradikal, aber auch rassistisch, homophob und in der Familienpolitik reaktionär. Anthony Blair dagegen stand für eine Gewerbefreiheit und Liberalität, die Platz für alle "marktgängigen" Lebensentwürfe hat. Wo sie auf Konfrontation setzte, integrierte er. "Meiner Meinung nach muss ein Land wie ein Team geführt werden", so Blairs Überzeugung, "es funktioniert erst dann, wenn sich jeder als Teil des Teams fühlt, ihm vertraut und Anteil an seinem Erfolg und seiner Zukunft hat." Bekanntlich gab es für Thatcher "keine Gesellschaft, nur Individuen und Familien". Eine solche Einstellung kann nicht lange Grundlage einer erfolgreichen Regierungspolitik sein. Im Gegensatz zu Thatcher sprach Blair ohne Unterlass von Gesellschaft, lieber noch über Gemeinschaft, englisch community. Die "Gemeinschaften" kannten laut Blair keine Klassengegensätze. Sie wollten Lohnarbeit und ihre Angelegenheiten ansonsten alleine regeln, mochten weder Bürokratie, noch Umverteilung, und verlangten vom Staat höchstens Starthilfe, um in der Konkurrenz bestehen zu können.
Von den Tories übernahm Blair eine restriktive Gesetzgebung gegen Streiks, wie sie eine Labour Regierung kaum hätte durchsetzen können, die sie aber auch nicht rückgängig machen wollte. Noch wichtiger war, dass er den Glaubenssatz übernahm, dass keine gesellschaftliche Organisationsform effizienter ist als der Markt. Seine Regierung beseitigte einige Auswüchse der konservativen Privatisierungspolitik, bei denen das Marktversagen zu offensichtlich geworden war – etwa die Privatisierung des Schienennetzes oder den grotesken Versuch, den Austausch zwischen verschiedenen Teilen des Gesundheitssystems als Markt zu organisieren. Ansonsten führte sie denselben Kurs weiter.
Anthony Giddens, der "Theoretiker New Labours", adelte diese Politik zum "dritten Weg" zwischen "alter Sozialdemokratie" und Neoliberalismus. Sein (affirmativ gemeinter) Begriff des „Sozialinvestitionsstaat“ charakterisiert Politik des Teams Blair & Brown am besten. Der Staat des dritten Weges zieht sich nicht einfach zurück, sondern gibt weiterhin Geld für bestimmte Bereiche des Sozialstaats aus, aber ausschließlich, um bessere Verwertungsbedingungen herzustellen. Er "investiert" in Bildung und finanziert beispielsweise Kinderbetreuung, damit alleinstehende Eltern arbeiten gehen können. Weil deshalb die Wirtschaft wächst, so Giddens, steigt auch unter den Bedingungen der Globalisierung der Wohlstand für alle. Aber er mildert die Ungleichheit nicht mehr ab, sondern verteilt nur die Chancen im allseitigen Wettbewerb gleichmäßig – wie immer das gehen mag. "In der Vergangenheit wurde die Förderung der sozialen Gerechtigkeit manchmal mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt", heißt es im sogenannten Schröder/Blair–Papier von 1998. Dass heute verlacht wird, wer öffentlich etwas anderes fordert, ist das wesentliche Ergebnis von zehn Jahren New Labour.